Reinheitsgebot oder Turbomast

WELT-AGRARMARKT Die Stunde der Wahrheit für eine "Wende" der EU-Landwirtschaftspolitik schlägt in der WTO

Jetzt endlich ein kühles Bier!" entfuhr es der frischgekürten deutschen Verbraucherschutzministerin, nachdem sie ihre erste Brüsseler Nachtsitzung ausgelaugt überstanden hatte. Vielleicht war es das ersehnte Labsal nach dem schwierigen Debüt im EU-Agrarministerrat, das Renate Künast jenes Bonmot vom "Reinheitsgebot in der Viehzucht" eingab, mit dem sie kurz darauf in ihrer ersten Regierungserklärung ihre Marschrichtung auf den Punkt brachte. Allein von Gras, Wasser und Getreide solle das deutsche Rindvieh fortan genährt werden. Ein solches Reinheitsgebot lässt Hoffnungen keimen, hat es doch dem Bier nun schon fast ein halbes Jahrtausend lang zu einer Erfolgsstory verholfen. Seit am 23. April 1516 zunächst in Bayern vorgeschrieben wurde, dass zum Bierbrauen "allain Gersten, Hopffen und Wasser genomen und gepraucht sölle werden", fließt das kühle Blonde krisenfest durch deutsche Kehlen.

Auch europapolitisch kann sich Renate Künast Mut zutrinken. Zwar wurde das Reinheitsgebot Mitte der Neunziger von der internationalen Brauer-Lobby hart attackiert und seine Befolgung musste in deutschen Landen zur Kann-Bestimmung herabgestuft werden. Doch eingehalten wird es immer noch, weil Deutschlands Biertrinker weder Maisgebrauch noch Zuckerzusatz goutieren. Die befürchtete Überflutung mit ausländischem Billig-Bier ist ausgeblieben, selbst Brauerei-Multis brauen "rein", sofern sie es riskieren, den deutschen Platzhirschen die Stirn zu bieten.

Doch wie schwer es ist, die Vision vom Reinheitsgebot in Europa auf das Vieh oder gar die gesamte Agrarwirtschaft zu übertragen, hat Künast schon erfahren müssen. Abgesehen von der derzeit präsidierenden schwedischen Kollegin, von der einstigen Umweltkommissarin im dänischen Agrarressort oder dem grünen Parteifreund aus Rom haben sich bisher nur wenige EU-Kollegen für ihre Reformideen erwärmt. Die meisten wandern unverdrossen auf ausgetretenen Pfaden, auch wenn diese offensichtlich ins Desaster führen. Derweil droht durch die Globalisierung mindestens ebenso großes Ungemach.

Noch plätschern die Genfer Verhandlungen über eine weitere Liberalisierung des Welthandels vor sich hin. Das Scheitern der WTO-Konferenz von Seattle hat Smalltalk im Agrarbereich zur Folge. Über den Abbau von Handelsbeschränkungen und Subventionen wird zur Zeit eher belanglos geplaudert, weil die gegensätzlichen Interessen allein auf diesem Feld ohnehin nicht zu harmonisieren sind. Doch soll im November in Katar ein neuer Versuch gestartet werden, die Verhandlungen in ganzer Breite - von Industriegütern über Finanzdienstleistungen und geistiges Eigentum bis zu Investitionsschutz - wieder anzuschieben. Dann geht es auch im Agrarbereich wieder zur Sache.


    Die Welthandelsorganisation (WTO) ... ... wurde am 1. Januar 1995 in der Nachfolge des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) gegründet. Am WTO-Sitz in Genf sind mittlerweile 135 Mitgliedsstaaten registriert, die zusammen mehr als 90 Prozent des Welthandels abdecken. Die WTO basiert auf den drei Vertragspfeilern Warenhandel (Gatt), Austausch von Dienstleistungen (Gats) sowie Fragen der geistigen Eigentumsrechte (Trips). Das inzwischen von der WTO verwaltete und überwachte Regelwerk geht weit über den klassischen grenzüberschreitenden Handel mit Gütern hinaus. Oberstes WTO-Organ ist die Ministerkonferenz, die im Zwei-Jahres-Rhythmus einberufen wird - die jüngste Zusammenkunft dieser Art - die als "Millennium-Runde" apostrophierte Konferenz von Seattle - endete im November 1999 mit einem Fiasko. Eine von der Clinton-Administration favorisierte durchgreifende Handelsliberalisierung scheiterte an unüberbrückbaren Differenzen zwischen den USA und der EU besonders über den Weltagrar- und Dienstleistungsmarkt, aber auch an Differenzen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern über die Verankerung von Sozial- und Umweltstandards sowie die Behandlung des Welttextil- und Bekleidungsmarktes.

Zunächst ist die EU mit massiven Forderungen der USA und der anderen großen Produzenten konfrontiert, die künstlichen Handelshürden für Nahrungsgüter-Importe zu verkleinern und gleichzeitig Subventionierungen weiter zurückzuschrauben. Dafür könnten durch eine Wende von billiger Massen- zu höherwertiger Qualitätsproduktion sogar erhebliche Spielräume entstehen. Dies gilt etwa für den Abbau der Exportsubventionen, mit denen EU-Überschüsse bislang künstlich verbilligt auf dem Weltmarkt verschleudert werden. Wer weniger Masse produziert, müsste auch nicht soviel verramschen. Auch bei den gleichfalls handelsverzerrenden internen Preisstützungen könnte die EU der Konkurrenz entgegenkommen.

Damit würden die Brüsseler Unterhändler Verhandlungsmasse gewinnen, jene direkten Einkommensbeihilfen handelsrechtlich abzusichern, ohne die eine umweltverträgliche und qualitätsorientierte Landwirtschaft am Hochpreisstandort Europa zumindest nicht flächendeckend betrieben werden könnte. Dies gilt zum Beispiel für die von Künast ins Gespräch gebrachte Grünlandprämie zur Förderung der extensiven Weidehaltung.

Die eigentliche Konfrontation aber steht in Sachen Qualitätsstandards und Lebensmittelsicherheit bevor. Hier stellt sich die Kernfrage, wie teure heimische Qualitätsproduktion und billige Einfuhren zu vereinbaren wären. Im geltenden Welthandelsabkommen spielt der Umwelt- und Verbraucherschutz eine untergeordnete, Tierschutz überhaupt keine Rolle. Das Vorsorgeprinzip ist weitgehend unbekannt. Nahrungsgütern darf nur dann der Marktzugang verwehrt werden, wenn eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit wissenschaftlich belegt werden kann.

Dies hat bisher schon zu schweren Konflikten geführt. So zog die Union im Streit um ihr Importverbot für Hormonfleisch gegenüber den USA den Kürzeren, kassierte vor dem Schiedsgericht der WTO eine schwere Niederlage und musste US-Strafzölle auf eigene Agrarexporte in dreistelliger Millionenhöhe schlucken. Beim Marktzutritt für gentechnisch manipulierten Mais und Soja kam es nur deshalb nicht zur Konfrontation, weil die EU den Schwanz weit eingezogen hatte. Seither wird der europäische Markt mit nicht gekennzeichneten Mischlieferungen aus Gen-Food und Naturprodukten made in USA überschwemmt. Ein Regelwerk der EU für den Einsatz gentechnisch veränderter Futtermittel lässt noch immer auf sich warten. Die Zulassung und Kennzeichnung gentechnisch veränderter Agrarprodukte ist ein handelspolitisches Minenfeld, auf dem es bisher nur deshalb nicht gekracht hat, weil es stets auf leisen Sohlen umgangen wurde.

Auf wackeligen handelspolitischen Füßen steht auch das Verfütterungsverbot von Tiermehl. Kein Zufall, dass es in der EU im Gegensatz zur deutschen Regelung bislang auf sechs Monate befristet wurde. Agrarkommissar Fischler gab unlängst vorsichtig zu bedenken, das Verbot ergebe nur bei gleichzeitigem Verbot aller tiermehlhaltigen Fleischimporte ökonomisch einen Sinn. Dazu aber brauche es nach den WTO-Regeln eine wissenschaftliche Begründung, die Brüssel nicht vorweisen könne. Außerhalb der EU werden Schweine, Hähnchen und Mastfische nach wie vor mit proteinhaltigem Kadaverpulver aufgepäppelt - ihre Einfuhr darf nach bisherigem internationalem Handelsrecht nicht verboten werden. Gleiches gilt für andere Ingredenzien der profitablen Turbomast wie antibiotische Leistungsförderer.

Neue, erweiterte Bestimmungen über Lebensmittelsicherheit, Verbraucherbelange, Umwelt- und Tierschutz im künftigen WTO-Vertrag sind zwar erklärtes Ziel der EU, doch schon im vorläufigen Mandatsvorschlag für die Agrarverhandlungen wimmelt es von butterweichen Formulierungen. Handelsauflagen beim Umwelt- und Verbraucherschutz im Agrarbereich, gar die Anwendung des Vorsorgeprinzips, könnten Marktöffnungen in anderen weit profitableren Bereichen verhindern. Auch EU-Handelskommissar Pascal Lamy erweckt nicht eben den Eindruck, als wolle er zur Absicherung eines europäischen Reinheitsgebotes seine Muskeln spielen lassen. Und die USA, die Agrar-Großmächte Kanada, Brasilien, Argentinien, Australien oder Neuseeland, nicht zuletzt die Entwicklungsländer, betrachten Umweltschutz, gar Vorsorge beim Verbraucherschutz ohnehin nur als verkappte Marktabschottung.

Doch könnte der Vergleich mit dem Reinheitsgebot für das deutsche Bier durchaus auch als Deckung für den späteren geordneten Rückzug der EU dienen, handelt es sich doch um eine freiwillige - keine verbindliche - Produktionsvorschrift. Vielleicht kann König Kunde ja in nicht allzu ferner Zukunft zwischen dem reinen europäischen und dem hormongedopten amerikanischen Steak wählen. Oder wahlweise zum tiermehlgefütterten Brathuhn, zum Antibiotika-gestärkten Schnitzel oder zum reinheitsgesiegelten deutschen Eisbein greifen. Auch beim Brot könnte er die Qual der Wahl zwischen Naturprodukt und Gen-Food haben. Und sollten ungeliebte industrielle Massenprodukte nicht gekennzeichnet sein, weil anonymes Unterjubeln zum "freien" Handel gehört, wird er den Unterschied wohl trotzdem leicht am Preis erkennen.

Dann allerdings würde sich die Frage stellen, ob die europäische Hausfrau das gleiche Reinheitsverlangen aufbringt wie der deutsche Biertrinker und den Verlockungen billiger Sonderangebote aus Übersee auf Dauer widerstehen kann. Wenn nicht, würde die EU-Agrarwirtschaft entweder in die Öko-Nische gedrängt oder müsste erneut gewendet werden.


Rangfolge der größten Export-/Importmächte 1999

Exportländer

Anteil am Welthandel
(in Prozent)

Importländer

Anteil am Welthandel
(in Prozent)

EU

20,1

USA

22,3

USA

16,8

EU

18,9

Japan

9,6

Japan

6,6

Kanada

5,3

Kanada

4,9

China

4,5

Hongkong

4,4

Hongkong

4,3

China

3,3

Südkorea

3,3

Mexiko

3,0



Quellen: WTO, OECD, Eurostat

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