Alles macht weiter

Zirkeltag Die Mauer ist weg. In den Herzen existiert sie vielfach immer noch – als Angst
Ausgabe 06/2018
Der Staat ist tot – Nu mache mal, Staat!
Der Staat ist tot – Nu mache mal, Staat!

Foto: Gerard Malie/AFP/Getty Images

Die Mauer ist jetzt länger weg, als sie gestanden hat. Seitdem sind viele Menschen aus ihrer Heimat weggegangen – in beide Richtungen. Das hat das Land verändert. Im Osten gibt es Städte, deren gesellschaftliches Leben von einigen tausend aus dem Westen zugewanderten Beamten, Journalisten, Pensionären getragen wird. Im Westen leben Ostdeutsche, als hätten sie schon immer dort gelebt.

Und doch gibt es nach 28 Jahren, zwei Monaten und 29 Tagen – so lange ist die Mauer heute weg – trotz aller Durchmischung noch zwei Seiten: Ost und West. Dabei ist es nicht so, dass sich die jeweils „Rübergemachten“ am neuen Ort nicht willkommen fühlten. Mittlerweile erleben viele sogar merkwürdige Irritationen, wenn sie in ihre alte Heimat zurückkehren. „Zehn Jahre hast du dort gelebt? Wie hast du das ausgehalten?“

Und natürlich gibt es Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West, aber eben auch zwischen Nord und Süd. Das hat mit historischen Erfahrungen und kollektivem Gedächtnis mindestens so viel zu tun wie mit der Höhenlage und dem Wetter. Außer diesem vielleicht: Weit verbreitet ist der Typus, der zwei gegensätzliche Dinge gleichzeitig möchte. Der beklagt, dass sich nichts ändert, aber eigentlich nichts ändern will, vor allem nicht sich selbst. Der weniger Steuern zahlen und zugleich eine bessere Infrastruktur möchte. Der weniger Staat spüren, aber mehr Polizei sehen will. Und, obwohl er mehr Sicherheit fordert, politisch eher aufs Ungewisse setzt.

Aber es waren ohnehin nicht die Wanderungsbewegungen von Menschen, die vor allem in den 1990er Jahren vom Aufbruch zur Erstarrung geführt haben. Es war eher der blindwütige Institutionen-Transfer in Staat, Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaft, von West nach Ost. Es musste ja alles schnell gehen. Das war ohne Beispiel – und vielleicht auch alternativlos. Zudem haben sich die meisten auch gern eingerichtet in diesen Institutionen: Betriebe schlossen, Abfindungen flossen – also erst mal Kasse machen und sich die Welt angucken.

Spätestens zwei Jahre später war die Qualifikation aus DDR-Zeiten nichts mehr wert und man selbst im alten Modus: So, Staat, nu mache mal – einschließlich der damit unweigerlich verbundenen Enttäuschung. Der unbestritten höhere Kollektivierungsgrad der Ostdeutschen hat schließlich dazu geführt, dass sich diese Enttäuschung auch in Kreisen breitmachte, die von alldem nicht unmittelbar betroffen waren – bei jüngeren „Wende-Gewinnern“, bei den dank Sozialauswahl begünstigten älteren Beschäftigten und bei Rentnern. Entwertung des Bisherigen, Verletzungen, Verirrungen, tatsächliche Verluste.

Dies alles lebt weiter in der Erzählgemeinschaft vom besseren Zusammenhalt, von der Vollbeschäftigung, der Flasche für die Schulkinder, dem kostenlosen Gesundheitssystem, dem Es-war-nicht-alles-schlecht. Nicht nur die DDR lebt so weiter, sondern auch die Zeit, die danach kam. Weil das, was Zeitzeugen auf Wikipedia erinnern, eine historisch fundierte Analyse nicht ersetzen kann. Selbst wenn aus den Sagen und Geschichten der Kern herausgeforscht sein wird, bleibt das Gefühl, das diesen Teil der Welt in Wirklichkeit zusammenhielt: Angst. Angst vorm großen Bruder, Angst vor der Klärung eines Sachverhaltes, Angst vor Unsicherheit.

Angst ist viel stärker als Wissen, Statistiken, Überzeugungen. Angst ist nicht die Mauer im Kopf. Sie ist die Mauer im Herzen.

Ulrich Böhme ist Redakteur beim MDR in Erfurt

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