"Wir müssen neu justieren" sagt der Minister für den Osten, Manfred Stolpe, "Sonderwirtschaftszonen" schaffen. Der Aufbau schwankt, die Fundamente sind nicht tragfähig genug. Dass den Verantwortlichen 14 Jahre nach der Einheit und nach inzwischen acht Jahren Stagnation dämmert, der deindustrialisierte Osten könnte ein gesamtdeutsches Problem werden, sollte man begrüßen. Man sollte aber gleichzeitig nachfragen, warum sie solange brauchten, um fest zu stellen, was die Spatzen seit langem von den Dächern pfeifen: Der Landstrich hat sein industrielles Gerüst verloren. Damit fehlt allen Versorgungssystemen der Halt. Was immer sich die Ministerpräsidenten der Ostländer nun einfallen lassen, wie lange sie über Leuchttürme oder Fl
Die Waren kommen, die Menschen gehen
Ostdeutschland Im 14. Jahr der deutschen Einheit sind lebenswerte Perspektiven kaum zu erkennen
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ächenberieselung auch streiten mögen, eines steht fest: Die totale Zerstörung des ostdeutschen Potenzials lässt sich nicht per Beschluss wieder rückgängig machen. Die geheuchelten "Chefsachen" Ost sind den Chefs auf die Füße gefallen, weil sie kein Auge darauf verwandt hatten. Die Zeit der Ernüchterung macht eine neue Bestandsaufnahme nötig. Es braucht mehr als wohlfeile Worte und Milliarden, die vorwiegend in die Konsumtion geflossen sind.Gibt es noch eine Chance oder ist der Zug nach nirgendwo längst abgefahren? Hat die Rede vom "Aufschwung Ost" noch irgendeinen Realitätsgehalt oder ist sie bereits nackte Propaganda? Wer im 14. Jahr der deutschen Einheit durch Ostdeutschland fährt, sieht merkwürdige Dinge, die auf den ersten Blick kaum zueinander passen: aufwändig restaurierte Stadtzentren, Rathäuser, Kirchen, Schlösser, Landsitze und Parkanlagen, umgeben von Abrissgebieten, Industriebrachen und verlassenen Dörfern; neue Wohnparks inmitten deindustrialisierter Regionen; moderne Infrastruktur und neu errichtete Produktionsstätten neben verfallenden Betriebsanlagen. Licht und Schatten liegen dicht beieinander, und die persönliche Sicht ist jeweils durch zufällige Wahrnehmungen bestimmt. Das Gesamtbild allerdings - die makroökonomische Bilanz, wie Volkswirte sagen würden - rutscht immer mehr ins Negative.So ist es nicht gelungen, Ostdeutschland zu einer wirtschaftlich prosperierenden Region zu entwickeln, zu einer Aufbau- und Aufholregion mit dynamischem Wachstum, einem Vorsprung an Produktivität, wettbewerbsfähig und führend bei Zukunftstechnologien. Ganz im Gegenteil: Ostdeutschland gehört zu den Problemzonen Europas mit den typischen Merkmalen Unterbeschäftigung, Abwanderung und Vergreisung. Finanziell am Tropf des Westens hängend, verkörpert der Osten Deutschlands eine Transfergesellschaft, und dies nicht nur ökonomisch, sondern inzwischen auch sozial und mental. Die Bedeutung des Ostens für den Westen scheint sich in seiner Bestimmung als Absatzmarkt und Arbeitskräftereservoir zu erschöpfen.Das negative Gesamtbild äußert sich besonders deutlich in der demographischen Entwicklung. Die Geburtenraten sind dramatisch gesunken, und die Abwanderung setzt sich seit 1989 ungebrochen fort. Insgesamt kehrten rund drei Millionen Menschen dem Osten den Rücken, zumeist für immer. Dass im Gegenzug etwa halb so viele den umgekehrten Weg wählten, also von West nach Ost gezogen sind, ändert daran nur wenig, denn die, die gehen, sind zumeist junge Menschen im arbeitsfähigen Alter, während die, die kommen, in der Mehrzahl keine "Produktionsfaktoren" darstellen. Ökonomisch ist dies eine Katastrophe, denn der Osten verliert auf diese Weise sein "Humankapital" und seine Zukunft in einem: Die Bevölkerung schrumpft, von einst 16,4 Millionen (1989) auf 14,5 (2010) - und weiter, auf zwölf, elf, zehn Millionen. Dieser Prozess ist nicht mehr umkehrbar, bestenfalls zu verlangsamen. Zugleich altert die Bevölkerung, so dass im Jahr 2030 etwa die Hälfte der Ostdeutschen Rentner sein werden.Um das Ausmaß dieser Veränderung begreiflich zu machen, ist es hilfreich, sich die Hochrechnungen für bestimmte Regionen vor Augen zu führen. So sank beispielsweise die Einwohnerzahl Sachsen-Anhalts von knapp drei Millionen (1989) auf 2,5 Millionen (2003). Für das Jahr 2020 werden noch gut zwei Millionen Einwohner prognostiziert und für 2050 weniger als 1,5 Millionen - ein Rückgang von rund 50 Prozent innerhalb von nur zwei Generationen. Die "demographische Katastrophe" findet also vor allem im Osten statt, hier aber umso merklicher und mit einschneidenden Konsequenzen für Wirtschaft, Bildung und Kultur.Die Abwanderung aus Ostdeutschland hätte es in diesem Ausmaß nicht gegeben, wenn die beiden Landesteile sich wirtschaftlich angeglichen hätten. Westdeutschland ist nun mal der Maßstab für den "Aufbau Ost" - nicht Portugal oder Irland und schon gar nicht Tschechien oder Polen. Aber was ist tatsächlich passiert? In der Crash-Phase (1990 - 1991) sank das Bruttoinlandprodukt im Osten um mehr als ein Drittel und entsprechend größer wurde der Abstand gegenüber dem Westen. In den Jahren danach (1992 - 1995) gab es eine kurze Zeit der Stabilisierung und des Aufbaus: Mit durchschnittlich neun Prozent Wachstum wurden die Verluste der Vorjahre ausgeglichen, der Osten holte auf. Diese Entwicklung brach jedoch 1996 abrupt ab. Seitdem erleben wir eine dritte Phase, die durch minimales Wachstum beziehungsweise Stagnation gekennzeichnet ist - der Abstand gegenüber Westdeutschland wird wieder größer.Insgesamt liegt die wirtschaftliche Leistungskraft heute nur wenig über dem Niveau von 1989, und das ostdeutsche Bruttoinlandprodukt pro Einwohner erreicht ungefähr 62 Prozent des westdeutschen Referenzwerts. Eine Angleichung könnte es nur dann wieder geben, wenn die Investitionen im Osten über einen längeren Zeitraum stärker zunehmen als im Westen. Das Gegenteil ist der Fall: Bei den Ausrüstungsinvestitionen verzeichnet Westdeutschland seit 1997 wieder höhere Quoten als Ostdeutschland. Damit sind die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt.Auch künftig wird in Ostdeutschland die Produktion weit hinter den Einkommen und dem Verbrauch zurück bleiben. Geschlossen wird diese "Produktionslücke" von gegenwärtig etwa 100 Milliarden Euro mittels Transfers in Gestalt von Gütern und Leistungen vornehmlich westdeutscher Herkunft und den entsprechenden Finanzmitteln, um diese zu kaufen. Knapp die Hälfte der Finanztransfers aus öffentlichen Kassen sind Sozialausgaben, etwa ein Drittel Aufwendungen für Einrichtungen des Bundes, der Länder und Kommunen. Für die Infrastruktur wurden im vergangenen Jahr 13 Prozent und für die Wirtschaftsförderung neun Prozent der Transfers ausgegeben. Insgesamt decken die Transferzahlungen rund ein Viertel der ostdeutschen Nachfrage, ihr Anteil am westdeutschen Bruttoinlandsprodukt liegt bei vier Prozent.Erklärtes Ziel der Transferleistungen ist es, den Menschen im Osten ein höheres Lebensniveau zu ermöglichen als die Produktion momentan hergibt sowie die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands zu fördern. Ihre tatsächliche Wirkung ist jedoch zwiespältig: Einerseits hat der Transfer zur Folge, dass im Osten mehr verbraucht werden kann als produziert wird, andererseits aber blockiert er gerade dadurch die Entwicklung Ostdeutschlands als Produktionsstandort. Die Transfergelder sind in einen ökonomischen Kreislauf eingebunden, dessen primärer Teil der Güterfluss von West nach Ost ist. Das Geld vermittelt diesen "realen Transfer" lediglich, fließt selbst aber als Erlös wieder in den Westen zurück, um dort als Einkommen, Gewinn und Steuer wirksam zu werden. Auf dieser Grundlage expandiert die Produktion im Westen, es entstehen Arbeitsplätze, Investitionen und Einkommen, während der Osten an dieser Entwicklung nur konsumtiv partizipiert. Eine unendliche Geschichte, bei der der Westen seine Produktion entwickelt, der Osten aber seinen Transferbedarf immer aufs Neue reproduziert.Die Folgen dieses ökonomischen Mechanismus sind spätestens seit der Analyse von John Maynard Keynes über die fatalen Wirkungen der Reparationszahlungen Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg bekannt und waren daher vorhersehbar. Weitere Lehren sind den missglückten Versuchen einiger Entwicklungsländer zu entnehmen, die versuchten, über den importgestützten Weg der "Entwicklungshilfe" Anschluss an die entwickelte Welt zu finden. Ostdeutschland wird ähnliche Erfahrungen machen, wenn es nicht gelingt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Die entscheidende Voraussetzung dafür wäre die Rückeroberung der Märkte für ostdeutsche Produzenten, was derzeit jedoch kaum möglich scheint.Warum es zu dieser verfahrenen Situation kam ist, ist im Prinzip bekannt. Man muss den Dingen nur auf den Grund gehen und nicht den Legenden folgen, die inzwischen darüber gesponnen wurden. Wie sich zumindest im Rückblick zeigt, war die "Wirt- schafts-, Währungs- und Sozialunion" vom 1. Juli 1990 der Startschuss für die Entwicklung Ostdeutschlands zum Mezzogiorno. Hinzu kamen dann die Modalitäten der deutschen Vereinigung: von der undifferenzierten Entmachtung und Ausgrenzung der Eliten bis hin zur Massenarbeitslosigkeit und massenhaften Entwertung des Human- wie des Sachkapitals. Eine weitere Ursache ist der Transfermechanismus selbst - der, so wie er angelegt ist - für Ostdeutschland keine ökonomische Entwicklung hervorbringt, sie im Gegenteil geradezu blockiert, der westdeutschen Wirtschaft jedoch ihren Vorsprung lässt.Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, ob nicht das für Ostdeutschland ins Auge gefasste Modell einer industriell geprägten Wachstumsgesellschaft von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Während Westdeutschland sich angesichts der globalen Herausforderungen von einer Industriegesellschaft zu einer postindustriellen Gesellschaft entwickelt, steckt Ostdeutschland - als deindustrialisierte und am Tropf hängende Region - in einer Entwicklungsfalle: Zurück zur alten Industriegesellschaft geht es nicht und für den Schritt nach vorn, zur modernen Dienstleistungsgesellschaft mit leistungsstarken Metropolregionen, fehlen wesentliche Voraussetzungen, wie forschungsintensive Großunternehmen und überregional wettbewerbsfähige Dienstleister.So wird Ostdeutschland auch künftig auf die Transfers aus dem Westen angewiesen sein und weit hinter den führenden Regionen Europas zurückbleiben. Gleichzeitig steigt der Druck im Kessel, weil in Osteuropa neue Konkurrenten mit niedrigen Lohnkosten und Sozialstandards hinzu kommen. Diese Lage ist alles andere als komfortabel, aber sie ist real, und Ostdeutschland wird sich in ihr mit neuen Ideen und Konzepten behaupten müssen.Weiterführende Literatur: Ulrich Busch, Am Tropf - Die ostdeutsche Transfergesellschaft, trafo-Verlag, Berlin 2002
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