Start zum Mezzogiorno

Zwölf Jahre nach Einführung der D-Mark Ostdeutschland ist zu dem geworden, was seine Bestimmung im vereinigten Deutschland wohl von Anfang an gewesen ist

Am 1. Juli jährt sich zum zwölften Mal ein Ereignis, das 1990 im Osten euphorisch als Start in eine neue Zeit, in eine Periode ungebremster Prosperität und westlichen Wohllebens, gefeiert wurde: die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Inzwischen sind zwölf Jahre ins Land gegangen und von der Begeisterung und Aufbruchstimmung von einst ist nicht mehr viel zu spüren. An die Stelle der Euphorie und der hochgesteckten Erwartungen von damals sind Resignation und Ernüchterung getreten.
Auch wenn die Boulevardpresse nicht müde wird, jedes Jahr dieselben Bilder zu präsentieren, auf denen strahlende DDR-Bürger, ihr erstes Westgeld in den Händen haltend, taumelnd vor Glück in die Supermärkte stürmen, so erregt dies heute bei den Ostdeutschen eher peinliche Gefühle denn glückselige Erinnerungen. Allzu schwer wiegt die Enttäuschung - und bei manchem inzwischen auch die Einsicht, mehrheitlich nicht die Gewinner, sondern die Verlierer der Einheit zu sein. So hat mittlerweile wohl auch der letzte Ostdeutsche begriffen, dass der Umtausch des größten Teils seiner Ersparnisse zum Kurs von 2:1 nur gegenüber dem Schwarzmarktkurs der Westberliner Wechselstuben von Vorteil war, nicht aber, wenn man das tatsächliche Kaufkraftverhältnis, das etwa 1:1 betrug, zugrunde legt. Die Feststellung, dass heute, nach der Euro-Umstellung, viele Preise wieder an das DDR-Preisniveau erinnern, unterstreicht diesen Tatbestand und lässt den seinerzeit vorgenommenen Betrug offenbar werden. Weit schlimmer aber noch als die Umtauschverluste bei den privaten Geldvermögen waren die volkswirtschaftlichen Konsequenzen der Währungsunion, insbesondere der Verlust der Märkte ostdeutscher Unternehmen an westdeutsche und die Preisgabe Ostdeutschlands als Produktionsstandort.
Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bedeutete nicht nur die entscheidende währungspolitische Weichenstellung für den Anschluss der DDR. Mit ihr wurde zugleich auch - wirtschaftlich wie institutionell - eine Entwicklung in Gang gesetzt, wodurch die realwirtschaftliche Angleichung des Ostens an den Westen unmöglich gemacht wurde, und zwar auf lange Sicht. Und dies nicht in erster Linie wegen des Anstiegs der Löhne, zumal die Gehaltssteigerungen in den meisten Branchen gar nicht so spektakulär hoch waren, wie immer wieder behauptet wird, sondern eher moderat. Entscheidend war vielmehr die von westdeutscher Seite planmäßig und systematisch betriebene Okkupation der ostdeutschen Märkte. Dem Verlust der Märkte folgte zwangsläufig der Verlust der Produktion, das heißt der Arbeitsplätze, Einkommen, Investitionen und der Steuereinnahmen. Auf diese Weise wurde 1990 eine verhängnisvolle Abwärtsspirale der wirtschaftlichen Entwicklung in Gang gesetzt, die katastrophale Folgen in sozialer Hinsicht nach sich zog, denen bis auf weiteres mit immer höheren Transferzahlungen begegnet werden muss. Dass all dies letztlich eine Konsequenz der Währungsunion und der in ihrem Kontext getroffenen Regelungen und Vereinbarungen ist, haben inzwischen auch die Akteure von damals begriffen. Walter Romberg, der 1990 als Finanzminister den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion für die DDR unterzeichnete, erklärte inzwischen, dass er einen solchen Vertrag nicht noch einmal unterschreiben würde.
Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion markiert ökonomisch das Ende der DDR und den Beginn der deutschen Einheit. Im historischen Rückblick erscheint sie jedoch zugleich als Auftakt zu einer Katastrophe, zur Umwandlung des deutschen Ostens in eine deindustrialisierte und sich zunehmend entvölkernde Region. Der Aufschwung Ost hat sich als Luftnummer erwiesen, die Angleichung der Lebensbedingungen blieb eine schöne Illusion. Eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung ist, trotz zahlreicher Programme und Initiativen, bisher nicht zustande gekommen. Selbst da, wo es zeitweilig Erfolge zu vermelden gab, im Bau- und im Dienstleistungsbereich, stockt die Entwicklung seit Jahren, so dass 1997 auch der Aufholprozess gegenüber Westdeutschland im volkswirtschaftlichen Maßstab zum Erliegen gekommen ist. Die Schere zwischen Ost und West öffnet sich von Jahr zu Jahr mehr, statt sich zu schließen, und es gibt absolut keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass sich dieser Trend in den nächsten Jahren grundlegend verändern, das heißt, umkehren wird.
Im aktuellen Wohlstandsranking der 16 Bundesländer, erstellt vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, rangieren die fünf neuen Länder auf den Plätzen zwölf bis 16, Berlin belegt den elften Platz. Der Abstand zwischen dem wohlhabendsten neuen Bundesland (Thüringen) und dem ärmsten alten Bundesland (Saarland) beträgt knapp 22 Prozentpunkte. Das ist deutlich mehr als der Abstand des Saarlandes gegenüber Hamburg, als dem reichsten westlichen Bundesland. Ebenso ist die Differenz zwischen Thüringen und dem Schlusslicht unter den östlichen Bundesländern, Sachsen-Anhalt, viel geringer als der Abstand gegenüber dem Westen. Das heißt, trotz einer wachsenden regionalen Differenzierung in West und Ost ist die Diskrepanz zwischen West- und Ostdeutschland immer noch bedeutend größer als die Differenzierung zwischen den einzelnen Ländern innerhalb West- bzw. Ostdeutschlands. Die fünf ostdeutschen Länder und Berlin hängen am Tropf der westdeutschen Wirtschaft, das ist die traurige Wahrheit. Dies wird durch die Notwendigkeit anhaltender und in Zukunft vermutlich sogar noch steigender öffentlicher Transferzahlungen aufs Deutlichste belegt.
Angesichts der wirtschaftlichen Misere im Osten scheint eine Neubewertung der Weichenstellung von 1990 unausweichlich: Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war nicht der Startschuss zu einem zweiten deutschen Wirtschaftswunder. Sie war der Start zu einem deutschen Mezzogiorno. Infolge der Währungsunion ist Ostdeutschland heute zu dem geworden, was seine Bestimmung im vereinigten Deutschland wohl von Anfang an gewesen ist: Absatzmarkt für westdeutsche Produkte und Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften für die westdeutsche Wirtschaft.

Literaturhinweis: Ulrich Busch: Am Tropf - Die Ostdeutsche Transfergesellschaft 1989-2002. trafo verlag. Berlin 2002, 380 Seiten, 29,80 Euro


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