Wo sind sie geblieben, die Visionen einer dezentralen New Economy, die vielen kleinen, innovativen Firmen Chancen bietet? Die kommerzielle Erschließung des Internets, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begann, wurde zunächst tatsächlich von neugegründeten Unternehmen getragen. Mit dem Siegeszug des weltumspannenden Mediums würden, so die anfangs dominierende Lesart, bestehende Machtungleichgewichte zwischen den Unternehmen eingeebnet und die Transparenz der Märkte signifikant gesteigert. Als dann vor fünf Jahren der Online-Dienst AOL den führenden US-Medienkonzern Time Warner übernahm, schien die Zeitenwende greifbar nah. Das sei der Anfang vom Ende der Old Economy, so lautete damals die Einschätzung der meisten Kommentatoren.
Heute ist von den großen Visionen zu Recht keine Rede mehr. Einige wenige Internet-Firmen haben sich selbst zu Quasi-Monopolisten entwickelt, und längst sind auch große Konzerne der Old Economy ins Netz-Geschäft eingestiegen. Zentralisierung ist der vorherrschende Trend, wie einige Beispiele zeigen.
Den Markt für Suchmaschinen, zunächst ein Betätigungsfeld zahlreicher Newcomer, teilen sich mittlerweile die beiden führenden Firmen Google und Yahoo nahezu vollständig untereinander auf. Der einzige ernsthafte Mitkonkurrent ist Microsoft. Die Unternehmenssoftware für E-Mail und Teamarbeit beherrschen zu fast 90 Prozent Microsoft (mit Outlook und der Server-Software Exchange) und IBM (mit Lotus Notes und der Server-Software Domino). Der Business-to-Consumer-Einzelhandel (B2C) zwischen Unternehmen und Privathaushalten wird nicht nur in Deutschland mittlerweile von wenigen gut eingeführten Unternehmen dominiert. Sieben der zehn größten deutschen Online-Händler sind klassische Versandhandelskonzerne. Neben den mittlerweile sehr gut etablierten Newcomern eBay und Amazon gehören zu den Top Ten beispielsweise KarstadtQuelle (mit Neckermann), Otto und Tschibo. Sie repräsentieren nicht nur bekannte Marken und haben eine angestammte Kundschaft. Sie kennen auch ihre Märkte bis ins Detail, verfügen über eingespielte Logistiksysteme, genießen Vertrauen bei Lieferanten und Handelsorganisationen und besitzen die nötige Finanzkraft, um langfristig in den Internet-Handel zu investieren. Auch der digitale Vertrieb von Musik über kommerzielle Internet-Musikshops dürfte sich in den kommenden Jahren auf wenige weltweit agierende Anbieter konzentrieren. Neben den traditionellen Musikhandelsketten engagieren sich in diesem Geschäftsfeld auch Apple, Microsoft oder T-Online. Sie alle wollen mit Lockangeboten neue Märkte für ihre Software, Hardware und Netztechnik erschließen.
Die neuen elektronischen Beschaffungsmärkte im Business-to-Business-Bereich (B2B), also beim Handel zwischen Unternehmen, wird schon heute eindeutig von führenden Konzernen der Old Economy beherrscht. Zu den dominierenden B2B-Marktplätzen zählen einerseits Plattformen, die von einzelnen Großunternehmen (VW, Bayer, Dell, Cisco Systems, Wal-Mart) betrieben werden und die nur den Geschäftspartnern dieser Unternehmen offenstehen. Andererseits gibt es auch große branchenweite Marktplätze, die in der Regel von Konsortien der jeweils führenden Großunternehmen organisiert werden, wie etwa cc-chemplorer (BASF, Bayer, Henkel) und Elemica (BASF, Bayer, Dow, DuPont) für die chemische Industrie, SupplyOn (Bosch, Continental, ZF Friedrichshafen, Siemens VDO) für die Zulieferbranche oder der mittlerweile gescheiterte Marktplatz der Automobilindustrie Covisint, der vor fünf Jahren von DamilerChrysler, Ford und General Motors gegründet und später um Renault, Nissan, PSA Peugeot Citroen und Mitsubishi erweitert worden war.
Die Gründe für diese bemerkenswerten Konzentrationsprozesse sind vielfältig. Die Großunternehmen haben die Bedeutung des Internets als neues Informations- und Vernetzungs-, Marketing- und Vertriebsinstrument mittlerweile erkannt und investieren seit Ende der neunziger Jahre massiv in entsprechende Anwendungen. Zudem verfügen sie über langjährige Erfahrungen mit älteren Formen elektronischen Handels: Auf der Basis von Electronic Data Interchange (EDI) kooperierten Großunternehmen und ihre Zulieferer bereits seit den achtziger Jahren. Darüber hinaus lassen sich neue internetbasierte Marktplätze sowohl im B2B- als auch im B2C-Bereich erfolgreich und profitabel nur dann betreiben, wenn sie eine kritische Masse an Teilnehmern und ein großes Handelsvolumen aufweisen, ein umfassendes Angebot bieten und von den führenden Unternehmen der Branche (mit-)getragen werden. Und schließlich erfordern sie nicht nur einen hohen Investitions- und Koordinationsaufwand, sondern verlangen auch die Kombination neuer mit traditionellen unternehmerischen Kernkompetenzen - vor allem in den Bereichen Technikeinsatz, unternehmensübergreifende Koordination, Logistik und Vertrieb.
Von diesen Markteintrittsbarrieren werden Neueinsteiger systematisch überfordert. Deshalb werden pro Branche nur wenige großindustriell beherrschte Marktplätze übrigbleiben. Vor allem im B2B-Bereich kommen hierarchische Einfluss- und Kontrollmuster hinzu: Die großen Betreiber oder Konsortien setzen die Regeln fest und bestimmen über den Ein- beziehungsweise Ausschluss der Teilnehmer. Innerhalb kürzester Zeit haben sich damit die Gewichte zwischen Großindustrie und Newcomern signifikant verschoben. Konzentrationsprozesse, Erneuerung von Marktmacht und ein erheblicher Bedeutungszuwachs etablierter Konzerne prägen das Bild sowohl im B2C- als auch im B2B-Bereich. Abgesehen von einigen wenigen jungen Unternehmen, wie Google, eBay und Amazon, die sich in den vergangenen Jahren als wichtige Mitspieler und Trendsetter festsetzen konnten, werden die internetbasierte Geschäftstätigkeit und die internationale Vernetzung mittlerweile maßgeblich von den Strategien der Großunternehmen geprägt.
Deren Politik ist allerdings keineswegs eindeutig, wie sich beispielhaft für die Automobilindustrie zeigen lässt. BMW hat bislang sowohl auf die Gründung eines eigenen Marktplatzes als auch auf eine Beteiligung an anderen Plattformen verzichtet. VW favorisiert einen eigenen Handelsplatz (VWGroupSupply.com), der nur den Tochterunternehmen und den VW-Zulieferern offen steht. Und DaimlerChrysler hat zusammen mit den Konkurrenten Ford und General Motors zunächst auf die Entwicklung eines gemeinsamen Marktplatzes (Covisint) gesetzt, über den die beteiligten Konzerne einen Großteil ihres Einkaufsvolumens tätigen wollten.
Trotz gemeinsamer Investitionen von etwa 500 Millionen Dollar ist Covisint mittlerweile gescheitert. Den Gründungsmitgliedern der Plattform ist es nicht gelungen, ihre unterschiedlichen Technologiesysteme zu standardisieren und zu integrieren. Vor allem aber hat die scharfe Konkurrenz der Automobilhersteller untereinander einer weitergehenden Integration ihrer Beschaffungssysteme über einen gemeinsamen Marktplatz Grenzen gesetzt. Mit der Komplexität und der strategischen Bedeutung der zu beschaffenden Produkte wächst die Zurückhaltung der Unternehmen, sensible und wettbewerbsrelevante Informationen offenzulegen und auszutauschen. Deshalb haben die großen Betreiber parallel individuelle Lösungen vorangetrieben: Die Beschaffung komplexerer und wettbewerbskritischer Produkte erfolgte nicht über Covisint, sondern über klassische Anfragen und unternehmenseigene Kundenportale.
Als Vorbote eines allgemeinen Scheiterns branchenweiter Marktplätze taugt Covisint gleichwohl nicht. Realistischer für die Zukunft von B2B-Marktplätzen scheint die folgende Perspektive zu sein: Branchenweite Märktplätze, die von Konkurrenten gegründet und gemeinsam betrieben werden, könnten sich als Beschaffungsmärkte vornehmlich für standardisierte Produkte stabilisieren. Parallel dazu werden sich vermutlich firmenspezifische Plattformen bilden, die von einzelnen Großunternehmen kontrolliert werden - als die wesentlichen Orte einer vertraulichen Zusammenarbeit zwischen den Herstellern und ihren Zulieferern, zum Beispiel bei ambitionierten Entwicklungsprojekten, bei Projektplanungs- und Steuerungsaktivitäten. Nicht die Ablösung der alten durch eine neue, kleinformatige und dezentral strukturierte Ökonomie steht also auf der Tagesordnung, sondern die Aneignung und Nutzung eines neuen Sets digitaler Werkzeuge vornehmlich durch die alte Ökonomie. Neue internetbasierte Märkte, Geschäftsfelder und Kooperationsbeziehungen zeigen sind also keineswegs Annäherungen an die neoklassische Vorstellung von perfekter Marktkonkurrenz. Im Gegenteil: Die Konzentration geht weiter, neue Machtungleichgewichte zugunsten großer Unternehmen entstehen. So könnte das oft beschworene Potenzial des Internets - Offenheit, Transparenz, grenzenlose Vernetzung - auf der Strecke bleiben.
Ulrich Dolata arbeitet am artec-Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen. Zuletzt von ihm erschienen ist in den WSI-Mitteilungen 1/2005 der Aufsatz "Eine Internetökonomie?"
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.