Klawdija hat schlohweiße Locken und trägt ein elegantes schwarzes Kleid mit Spitze. Unverkennbar hat sie sich schön machen wollen für unsere Begegnung. Wir gehen in ihr Zimmer, das zu einer Wohnung gehört, in der sie mit Enkeln und Urenkeln lebt. Klawdija Kuleschowa bewohnt ein über hundert Jahre altes Haus nicht weit vom Newski-Prospekt an der Petersburger Kolomenskaja-Straße. Ich treffe die 103 Jahre alte Dame kurz nach den Gedenkfeiern, mit denen an die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht erinnert worden ist. Am 27. Januar 1944 – nach 872 Tagen – war die Belagerung endlich vorbei war. Die Rote Armee durchbrach die Stellungen der Wehrmacht – bis heute ist der 27. Januar für die Stadt an der Newa der wichtigste Gedenktag.
Klawdija wird noch im zaristischen Russland geboren, am 4. Juni 1917, fünf Monate vor der Oktoberrevolution, und verbringt ihre Kindheit in einem Dorf, das im Umland der damaligen russischen Hauptstadt Petrograd liegt. Dass Deutschland die Sowjetunion am 22. Juni 1941 angreift, erfährt sie in einem Park auf der Krestowski-Insel im Norden der Stadt. „Ich hatte gerade mein Kleid ausgezogen und wollte schwimmen gehen, da hörte ich durch einen Lautsprecher die Rede von Molotow, der sagte: ‚Es ist Krieg, die Sowjetunion wurde überfallen.‘ “ Die Nachricht habe die Menschen nicht so sehr überrascht, sagt Klawdija, die damals für den Lotsendienst im Hafen arbeitet. „Wir waren darauf eingestellt. Wir wollten niemanden angreifen, aber unsere Erde auch niemals hergeben.“
Noch im Juni 1941 wird die damals 24-Jährige mit anderen Arbeiterinnen zum Bau von Gräben gegen deutsche Panzer in die 160 Kilometer entfernte Hafenstadt Ust-Luga gebracht. Dort sei die Gegend moorig gewesen, man wurde von Mücken zerstochen und musste mit einer Malaria rechnen, erzählt die alte Dame. „Zumeist gab es Linsensuppe mit Brot und dazu Tee. In unserer Montur arbeiteten, aßen und schliefen wir. Stellen Sie sich vor, wie hübsch wir alle aussahen!“ Plötzlich kursiert die Meldung, die Deutschen hätten die Stadt Gatschina eingenommen, sodass eine Rückkehr nach Leningrad nicht möglich ist. Die Eisenbahnstrecke führt über diesen Ort. Dann wendet sich das Blatt. „Man hatte die Deutschen aus Gatschina verjagt“, erinnert sich Klawdija mit einem strahlenden Gesicht, als sei es gestern gewesen.
Auf Leningrad stößt im Sommer 1941 die finnische Armee von Norden her vor. Von Südwesten nähert sich die 18. deutsche Armee, aus südlicher Richtung rollen starke Panzerverbände heran. Am 8. September ist die Verbindung von Leningrad nach Schlisselburg und damit zum sowjetischen Hinterland gekappt. Was die deutschen Stäbe an Order erhalten, ist eindeutig. Phillip Kleffel, Kommandeur der 1. Infanterie-Division, schreibt am 13. Dezember 1941 in seinem Tagesbefehl: „Dieser Kampf fordert, dass wir nicht das kleinste Mitleid mit der hungernden Bevölkerung haben, auch nicht mit Frauen und Kindern.“ Man lasse sie nicht durch die Front. Auch Frauen und Kinder seien Russen, die „überall, wo es möglich war, Verbrechen begangen haben“.
Als Klawdija nach Leningrad zurückkehrt, wird sie von ihren Eltern, dem elfjährigen Bruder Jurij und der 16 Jahre alten Schwester Irina sehnsüchtig erwartet. Daran, dass es ständigen Beschuss gab, kann sich die alte Dame noch gut erinnern. „Vor unserem Haus hatten wir einen tiefen Graben, der uns vor allem gegen den Luftdruck schützte, wie er mit der Bombardierung entstand.“ Klawdija wechselt von der Leitzentrale der Schifffahrt in eine Fabrik, um bei der Reparatur von Barkassen zu helfen. Der Weg von der Arbeit nach Hause sei wegen der Luftangriffe wie ein Spießrutenlauf gewesen. „Kaum warst du ein kleines Stück gegangen, heulten schon wieder die Sirenen, und du musstest Schutz suchen. Heute denke ich, was für ein Glück, du legst dich schlafen und weißt, am nächsten Morgen wachst du wieder auf. Welches Glück, über den nächsten Tag nachdenken zu können. Damals lebten wir nur von Minute zu Minute.“
Der Hunger, die ständige Anspannung bleiben nicht ohne Folgen. „Einmal hatte ich akute Probleme, mich zu konzentrieren. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr an meinen Familiennamen erinnern. Die Leere dauerte zehn Minuten und wiederholte sich zum Glück nicht.“ Klawdija erzählt, dass sie an Dystrophie litt, einer Mangelkrankheit mit psychischen Folgen. Nach der Blockade habe sie lange eine schmerzhafte Erkrankung im Fettgewebe der Unterschenkel belastet.
Leningrad hat vor dem deutschen Überfall 3,2 Millionen Einwohner, bis zum Februar 1943 werden 1,7 Millionen Menschen evakuiert. Hat auch Klawdija darauf gehofft? „Wie konnte ich mich als Komsomolzin evakuieren lassen? Meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich waren der Meinung, dass wir uns selbst schützen konnten. Wir dachten nicht daran, die Stadt zu verlassen. Die Familie ging während der nächtlichen Angriffe in den Keller. „Dort standen Betten aus Stahlgestellen. Mein Vater schaffte es nicht bis in diesen Schutzraum und blieb in der Küche. Wir haben ihn deshalb überredet, sich doch evakuieren zu lassen. Er hatte bis dahin als Jurist gearbeitet, war gerade einmal 60 Jahre alt und nach einer Lungenentzündung invalidisiert. Man brachte ihn ins Swerdlowsker Gebiet, wo er bald starb. Wir sahen ihn nie wieder.“
Wenn die Familie nach der Arbeit zusammenkommt, gibt es stets die gleiche Zeremonie. „Das heiße Wasser für die Graupen kochte schon. Ich teilte das Brot auf. Natürlich bekamen alle das Gleiche, jeder 125 Gramm. Eine Waage gab es nicht. Wie ich das Brot auch geschnitten habe – für mich blieb immer die dünnste Scheibe übrig. Eigentlich war ich die Kräftigste, aber bald die am meisten Ausgezehrte, sodass ich als Erste krank wurde.“
Auf der Straße seien die Menschen vor Hunger und Kälte umgefallen und gestorben. Der erste Blockade-Winter 1941/42 mit Temperaturen von minus 30 Grad sei der schlimmste gewesen. „Auf meinem Weg zur Arbeit musste ich über einen Platz, auf dem der Schnee so hoch lag, dass man das Dach der Straßenbahn nicht mehr sah, wen sie durch die freigelegte Schneise fuhr. Einmal war ich mit meinem Bruder unterwegs, als mitten zwischen den Schneewänden ein gefrorener Leichnam lag. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wir mussten über den Körper steigen – einen Fuß darauf setzen und einen daneben. Ein großer Schritt war unmöglich. Mein Brüderchen weinte.“ Als Klawdija davon erzählt, kommen ihr die Tränen. Umso schwerer fällt mir die Frage, zu der ich mich dann aber doch durchringe: Hat es Menschen gegeben, die das Fleisch von Toten aßen. „Ich habe das nicht gesehen“, so Klawdija. „Zu hören war, dass auf einem Markt Sülze und Frikadellen verkauft wurden. Man musste mit Kleidungsstücken bezahlen, später mit Gold. Ich weiß nicht, ob das Banditen waren. Man sagte jedenfalls, die Sülze sei aus Menschenfleisch.“
Die Stadt sei in jener furchtbaren Zeit nicht sicher gewesen. Es habe Überfälle gegeben, um in den Besitz von Lebensmitteln zu kommen, wenn die Leute spätabends einkaufen waren. Die Geschäfte blieben meist lange geöffnet, auch wenn die Regale leer waren. Eine Nachbarin, die ein staatliches Magazin leitete, habe ihr das Leben gerettet, erwähnt die alte Dame. Die habe sie mit nach Pargolowo genommen, einem Dorf nördlich von Leningrad. „Ich war kurz davor zu sterben. Dort heizten sie ein. Ich weiß noch, dass ich die ganze Zeit Wasser trinken wollte, doch sie gaben mir nicht genug, bis ein Militärarzt vorbeikam. Ich erinnere mich, dass er sagte: ‚Gebt ihr so viel zu trinken, wie sie will.‘ So fand ich zurück ins Leben.“
Als ich mich verabschieden will, sagt Klawdija Kuleschowa wie zur Versöhnung, dass sie keinen Groll mehr auf die Deutschen habe. Ich umarme sie, wünsche ihr Glück und Gesundheit und gehe hinaus in die feuchtkalte Petersburger Winternacht. Aus der Ferne ist dumpfer Verkehrslärm zu hören, als sei es nie anders gewesen.
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