Abends geht Olga gern noch ein paar Schritte spazieren. Sie verlässt das gerade übergebene 21-stöckige Haus in der Mala Filowskaja an der westliche Peripherie Moskaus, in dem sie seit kurzem wohnt. Sie läuft quer durchs Viertel und erreicht das Haus, in dem sie mit ihrem Freund und dessen Mutter sieben Jahre lang gewohnt hat. Es handelt sich um einen Vier-Etagen-Plattenbau, der von außen mit kleinen weißen Kacheln verziert ist und „Chruschtschowka“ genannt wird. Häuser dieses Typs haben in der Regel vier Eingänge und 80 Wohnungen. Einst waren sie die ersten Bauten in der Sowjetunion, die mit industriell produzierten Platten hochgezogen wurden.
Damit begonnen wurde unter Parteichef Nikita Chruschtschow Ende der 1950er Jahre, daher der Name. Bis 1985 wurden diese Plattensiedlungen in unterschiedlichen Versionen auch in Leningrad, Kiew, Minsk, Kasan, Omsk und so weiter errichtet. Die Chruschtschowkas sollten die Lebensqualität verbessern. Wer zuvor in Holzhäusern und Baracken wohnte, wusste das zu schätzen. Nur wurde oft zu schnell hochgezogen und auf Qualität wenig Wert gelegt. Auch war bei den Dreizimmerwohnungen stets ein Raum das Durchgangszimmer.
Notfalls nach draußen
„Ich verabschiede mich von meinem Haus. Es stirbt langsam.“ Olga blickt nachdenklich auf den Block, der für sieben Jahre ihr Zuhause war. Ihr mache das Abschiednehmen nichts aus. Das sei nicht immer so, sie erinnere sich einer älteren Frau. „Die stand vor ihrem Haus und hat erbarmungswürdig geheult, als der Bagger anrollte und alles abriss.“ In Olgas altem Domizil huschen die Schatten von Schrotthändlern an Öffnungen vorbei, wo einmal Fenster waren. Sie streifen durch die Wohnungen, demontieren Holztüren und verglaste Balkons, schleppen Teppiche oder Mobiliar hinaus, das die Eigentümer zurückgelassen haben. Jetzt, da niemand in dieser Chruschtschowka-Herberge mehr wohnt, wäre das Gebäude mit seinen herausgebrochenen Fenstern nur noch sich selbst überlassen, gäbe es nicht Scharen von Katzen, die weiter in den Kellern wohnen und gerade von einer älteren Dame mit selbstgekochtem Brei und geschnittener Kochwurst gefüttert werden.
Seit März wohnt Olga nun in einem gigantisch anmutenden neuen Wohnhaus, einem viereckigen Block mit einer Einbuchtung auf der Rückseite, einer Fassade von weiß-grüner Tönung, mit 462 Wohnungen und fünf Eingängen, erbaut von der Stadt für Umsiedler aus den Chruschtschowkas. Von den oberen Stockwerken hat man einen wunderbaren Blick über den großen Filowski-Park und auf die Skyline von Moskaus Nordwesten. Die Räume in diesem Giganten seien zwar etwas kleiner als im Chruschtschowka-Haus, dafür biete die Küche mehr Raum, meint Olga. Auch sei jetzt jedes Zimmer vom Korridor aus zu erreichen, die Wohnfläche aber gleich geblieben. Ist das der Anspruch, der für ehemalige Chruschtschowka-Bewohner prinzipiell gilt?
Olga und ihr Freund konnten im Zeichen eines Programms umziehen, das noch der frühere Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow Mitte der 1990er Jahre vorantrieb. Um aufwendige Reparaturen an den Chruschtschowkas zu vermeiden, die ihre geplante Lebenszeit von 30 oder 50 Jahren längst überschritten hatten, begann die Stadt Moskau, mit Hilfe von Investoren Wohnhäuser mit zehn oder zwanzig Stockwerken zu bauen. Noch in diesem Jahr jedoch läuft das Luschkow-Programm aus, so dass sich Nachfolger Sergej Sobjanin zu einem Folgeprojekt genötigt sieht, das im September starten soll und bombastisch anmutet: 1,6 Millionen Moskauer sollen aus 7.900 Chruschtschowka-Häusern mit einer Wohnfläche von etwa 25 Millionen Quadratmetern in moderne Mehrfamilienbauten umgesiedelt werden. Experten meinen, dieser Transit werde mehr als ein Jahrzehnt dauern. Die Stadtverwaltung verspricht den Chruschtschowka-Bewohnern, sie innerhalb ihres Rayons oder maximal in einen Nachbarbezirk zu verfrachten. Diese Regel gilt freilich nicht für die Betroffenen im Stadtzentrum. Sie müssen sich auf einen Umzug in die Außenbezirke gefasst machen.
Eigentümerin Tatjana
Für Bürgermeister Sobjanin und Präsident Putin kommt ein solches Megaprojekt gerade recht. Damit lässt sich punkten bei den Moskauern, die mit der Furcht leben, in der Zwölf-Millionen-Metropole unter die Räder zu kommen und nur noch an den Rändern geduldet zu sein. Das Abreißen der Chruschtschowkas sei eine „völlig richtige Entscheidung“, so Putin bei einem Treffen mit dem Bürgermeister. Er erwarte aber, dass dabei „die Interessen der Bürger maximal berücksichtigt werden“. Die Duma, so der Präsident, müsse das Renovationsgesetz umgehend beschließen und so gestalten, dass die Eigentumsrechte der Chruschtschowka-Bewohner eindeutig geregelt würden. Doch der Druck der Immobilienkonzerne und ihnen ergebener Beamter ist groß. Abgesehen davon beschwört die gigantische Umsiedlungsaktion auch Unmut herauf. In den Regionen werden Stimmen laut, dass es ein derartiges Vorhaben eben nur im reichen und privilegierten Moskau geben könne, die Provinz aber ausgespart bleibe. „Wir leben noch in Holzhäusern, und die ziehen schon vom alten in den modernen Plattenbau“, so zuweilen der Tenor.
Viele Moskauer misstrauen dem Versprechen der Stadtverwaltung, man werde die Chruschtschowka-Mieter vorwiegend in ihrem Viertel lassen. Die Finanzinvestoren, welche die Stadt für ihr kolossales Unternehmen als Geldgeber braucht, hungern nach freiem Bauland in der Moskauer City. Diese Leute hätten viele Hebel – Korruption, Einschüchterung, nicht zuletzt leicht beeinflussbare Medien –, um ihre Interessen durchzusetzen, fürchtet Ksenia, eine 40-jährige Aktivistin und Putin-Gegnerin, die nicht weit vom Weißrussischen Bahnhof in einem Chruschtschowka-Haus wohnt. Sie kämpft mit Gleichgesinnten gegen den Abriss von preisgünstigem und architektonisch wertvollem Wohnraum. Ihr Drei-Zimmer-Apartment habe sie „für viel Geld“ in ein Studio umgebaut. „Das investierte Geld bekomme ich nie zurück, wenn ich umziehen muss.“ Der Boden in der Innenstadt sei „Gold wert“. Hier würden ständig neue Hotels, Wohn- und Bürohäuser wie Privatkliniken gebaut. „Die einfachen Leute werden von den Investoren, die teure Eigentumswohnungen verkaufen wollen, in unattraktive Stadtteile verdrängt. Für mich ist das geplante Gesetz Renovazija, mit dem das Genehmigungsverfahren für Neubauten verkürzt werden soll, jedenfalls ein Alarmsignal.“
Wie dem Entwurf des Dekrets zu entnehmen ist, können auch Häuser zum Abriss freigegeben werden, die an Chruschtschowkas grenzen. Oder bei Altbauten aus dem 19. Jahrhundert, die eigentlich renoviert werden sollten, fährt der Abrissbagger vor. Bürgermeister Sobjanin hat die Duma gebeten, alle nötigen Gesetze so schnell wie möglich zu verabschieden, damit sie Anfang 2018 in Kraft treten können. Ksenia meint, damit würden nicht nur Interessen der Investoren bedient. „Die guten alten Standards aus Sowjetzeiten über Grünflächen zwischen den Häusern, Lichteinfall und einen Mindestabstand zwischen Gebäuden, die kaum noch gelten, werden gleich mit geschleift.“
Vor dem weiß-grünen Wohnblock an der Mala Filowskaja komme ich mit der 69-jährigen Biologin Tatjana ins Gespräch. Es ist einer der ersten Frühlingsabende. Nach sechs Monaten Frost riecht die Luft nach feuchter Erde und frischem Grün. Wegen der abendlichen Kälte trägt Tatjana auf ihrem Spaziergang aber noch den dunklen Winterpelz. Einst habe sie mit den Eltern in der Gegend um den Arbat gewohnt. Doch als Nikita Chruschtschow Anfang der 1960er Jahre dort die meisten alten Gebäude abreißen ließ, um Platz für Hochhäuser im seinerzeit populären American Style am Prospekt Kalinina zu schaffen, musste sie in den Westen der Hauptstadt und einen Chruschtschowka-Bau ausweichen. Vor Monaten erhielt sie eine „Smotrowoi-Order“ aus der Bezirksverwaltung, sich mit ihrem Mann eine neue Wohnung anzusehen. Die lag im 21. Stock. Tatjana, die 54 Jahre im ersten Stock einer Chrutschowka gewohnt hatte, war darüber nicht glücklich und versuchte, ein Apartment in einer der unteren Etagen zu bekommen. „Man hat uns gedrängt, wir sollten uns mit der neuen Wohnung abfinden. Schließlich hätten wir seit 15 Jahren gewusst, dass ein solcher Umzug irgendwann unausweichlich sein würde. Also haben wird uns gefügt.“ Und wie lief der Umzug?
„Wir bekamen für einen Tag einen Möbelwagen mit vier Packern – zwei Russen, ein Armenier, ein Ukrainer, alles umsonst.“ Das neue Haus sei ja ziemlich monströs. Außerdem gäbe es da noch die Unsicherheit, welchen Status man habe. Die Wohnung im Chruschtschowka-Haus hatte Tatjana in den 1990er Jahren auf ihren Namen privatisieren lassen. Dieses Recht besaßen viele. Nach einer Entscheidung des Obersten Sowjets von 1991 konnten alle, die in einer Wohnung gemeldet waren, ein Eigentumsrecht reklamieren. Und das habe sie getan. Nur leider bleibe ihr die Wohnungsverwaltung noch immer eine Urkunde schuldig, die sie ebenso als Eigentümerin ihres jetzigen Apartments ausweise. „Formal gelte ich weiterhin als Besitzerin meiner bisherigen Wohnung im Chruschtschowka-Haus – doch das ist bereits abgerissen.“
Sie hoffe, durch den Umzug nicht Rechte verloren zu haben, die für sie einen existenziellen Wert hätten. Vorerst tröste sie sich damit, wenigstens in ihrem angestammten Bezirk geblieben zu sein, wo sie alle Wege kenne und sich zu Hause fühle. „Das finde ich wunderbar tröstend.“
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