Als die Steppe kochte

Russland Alexander Glitschew kam als 19-Jähriger an die Stalingrad-Front. Er hielt nach dem Krieg die Versöhnung mit Deutschland für unverzichtbar
Ausgabe 19/2015

An drei Gerüche erinnerte sich Alexander Glitschew, wenn er an die Schlacht um Stalingrad dachte. „Da war der Geruch explodierender Granaten, der Geruch von Leichen, die niemand beerdigte, weil keine Zeit war, und der Geruch von wildem Wermut.“ Das Gewürzkraut blieb in seinem Gedächtnis haften, weil er das kniehohe Gewächs im heißen Sommer 1942 ständig vor der Nase hatte. Als Aufklärer robbte Glitschew fast den ganzen Tag durch die Steppe vor Stalingrad. Wer in dem flachen Gelände aufstand, war ein toter Mann. Es gab keine Deckung.

Ich traf Glitschew zuletzt im Januar 2013. Den 70. Jahrestag des Sieges über die Hitler-Wehrmacht wird der Veteran, der von 1972 bis 1987 das zentrale Moskauer Forschungsinstitut für technische Standardisierung leitete, nicht mehr erleben. Der in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsene Wissenschaftler starb am 25. November 2014 im Alter von 91 Jahren. Immer mehr schrumpft die Zahl sowjetischer Kriegsteilnehmer, die Zeugnis ablegen können vom deutschen Ausrottungskrieg gegen die „slawischen Untermenschen“. In Moskau leben noch gut 23.000 Veteranen, dazu Tausende Usniki, ehemalige Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkrieges ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Bei den Feiern zum Tag des Sieges am 9. Mai können wegen der schlechten Gesundheit nur noch wenige aus der Kriegsgeneration dabei sein. Wer von ihnen dennoch auf die Straße geht, dem werden Blumen geschenkt. Egal, ob man einen Veteranen kennt oder nicht, so ist es Brauch seit Jahrzehnten.

Es bedarf für diesen Tag keines Aufrufs. Viele Moskauer ziehen, nachdem sie sich die Parade im Fernsehen oder auf einer Zufahrtsstraße zum Roten Platz angesehen haben, zu dem Friedhof, in dessen Erde die Kriegsteilnehmer der eigenen Familie bestattet sind. Um die Toten zu ehren, gehören Wodka, ein Stück Brot und eine Zigarette auf den Grabstein.

Mit frohem Licht

Alexander Glitschew hat etwas Kostbares hinterlassen, ein Buch mit Erzählungen über den Krieg und die Zeit danach. In der Geschichte über Mascha beschreibt er eine Krankenschwester, die seinen Aufklärungstrupp begleitete. Mascha war 19 und damit so alt wie die meisten Soldaten der Einheit. Eines Nachts sollte ein Hügel gestürmt werden, um MG-Stellungen der Deutschen auszuschalten. Mascha sagte, „Kinder, ich warte auf euch. Kommt zurück. Mit Gott.“ Glitschew notiert in seinem Buch: „Warum sie ‚mit Gott‘ sagte, wussten wir nicht und nahmen es hin. Vermutlich wusste sie es selbst nicht.“ Von der Operation kehrten die Soldaten mit etlichen Verwundeten zurück. Glitschew selbst war schwer am Bein verletzt und wurde von Mascha verbunden. Wochen später lag sie selbst schwer verwundet auf einer Krankentrage. Glitschew: „Sie ist leichenblass, stöhnt und flüstert immer wieder, ‚ich will einen Sohn und eine Tochter‘. Dann rollen ihr Tränen übers Gesicht. Am Morgen ist sie tot. Über der Steppe steigt mit frohem Licht die Sonne auf.“

Glitschew stand seit Mitte August 1942 an der Wolga-Front in einem Abschnitt 30 Kilometer westlich von Stalingrad. Dem eigenen Tod entrann er nur knapp. Am 14. Dezember 1942 durchbohrte ein Granatsplitter sein linkes Knie, ein anderer verfehlte das Herz nur um Zentimeter. Es sei Zufall gewesen, dass er überlebt habe, erinnerte er sich, „wie alles im Krieg Zufall ist“.

Als ich ihn das letzte Mal besuchte, schilderte mir Glitschew, wie seine Soldaten in Bombentrichtern Schutz suchten. „Meistens waren wir zu müde, uns selbst Löcher zu graben So schliefen wir nachts auf der flachen Erde. Zu essen gab es bestenfalls einen Hirsebrei.“ Für Glitschew war der Krieg im Dezember 1942 zu Ende. Nach zwei Operationen kam er nach Moskau, wo er sich eine neue Existenz aufbaute. Weil er in seiner Geburtsstadt Krasnodar nur acht Schuljahre absolviert hatte, wurde er zunächst Kommandeur eines Schießstandes, ging nach dem Krieg nochmals zur Schule, studierte am Moskauer Luftfahrt-Institut und brachte es später bis zum Professor für Ökonomie. Der Staat habe die Kriegs-Invaliden nicht im Stich gelassen. „Sie erhielten eine kleine Rente, Ausbildung und Arbeit. Oft hatten sie Angehörige verloren. Einige wurden damit nie fertig, verfielen dem Alkohol oder begingen Selbstmord.“

Die jungen Soldaten um ihn herum hätten damals nicht nur für die Heimat, sondern auch für die Sowjetmacht gekämpft, war Glitschew überzeugt. „Die Sowjetmacht wurde als etwas Positives gesehen. Als Sohn eines Fotografen, der in einer Krasnodarer Kellerwohnung aufwuchs, konnte ich eine Fliegerschule besuchen.“ Wehalb war er dann im Krieg kein Flieger? „Es fehlte an Maschinen, so wurde ich Aufklärer.“

Niemand wird es wagen

Die Sitten des Krieges in der eigenen Armee waren hart, erzählte der Veteran. Truppen des Geheimdienstes NKWD hätten dafür gesorgt, dass sich kein Soldat von der Front absetzte. Am 28. Juli 1942 – deutsche Truppen waren auf dem Vormarsch zu den Ölquellen in Baku – unterschrieb Stalin den Befehl Nr. 227: „Ni schagu nasad!“ (Keinen Schritt zurück!). „Das hieß“, so Glitschew, „hinter unserem Rücken baute sich eine zweite Linie auf. Im Abstand von 700 Metern standen NKWD-Soldaten mit Maschinengewehren.“ Er habe nie erlebt, dass sie geschossen hätten. „Aber die Angst davor, dass sie es tun, hat die Kampfmoral der Soldaten vermutlich erhöht.“ Den eigenen Staat in dieser Lage so handeln zu sehen, hielt Alexander Glitschew für normal. Die Frage sei nur, wie weit er dabei gehen dürfe.

Was er beim Anblick toter deutscher Soldaten fühlte? Glitschew schwieg lange. „Ich habe mich über keinen einzigen Toten gefreut. Jeder Gefallene, ob Russe oder Deutscher, hat in mir ein Gefühl der Bitterkeit ausgelöst. Umso unverzichtbarer war es, sich nach dem Krieg zu versöhnen.“

Überall in Russland gibt es am 9. Mai Konzerte und Gedenkminuten für die über 27 Millionen Toten des Großen Vaterländischen Krieges – rote Nelken überall, nichts und niemand ist vergessen. Die Deutschen seien von Hitler gezwungen worden, gegen Russland zu kämpfen, so die verbreitete Meinung. Heute müsse Deutschland leider den USA folgen, erklärt mir der etwa 30-jährige Bankangestellte Sergej, den ich im Westen Moskaus an der Metro-Station Bagrationowskaja zum Siegestag befrage. Sergej will sich die rollenden Panzer und Raketen – „vielleicht auch einige Neuheiten“ – mit seiner Frau an der Twerskaja, der früheren Gorki-Straße, anschauen. Was empfindet er dabei? „Ich fühle nicht nur Stolz auf mein Land. Ich trauere auch um meine Großväter, die beide gekämpft haben.“ Ob Russland sich verteidigen könne? „So wie schon lange nicht mehr. Aber niemand wird es wagen, uns anzugreifen. Russland ist eine Atommacht.“

Der Kriegsveteran Alexander Glitschew hat Stalingrad nach dem Krieg öfter besucht. Einmal war er früh morgens ganz allein auf dem Schlachtfeld von einst. „Es war völlig still. Die Sonne ging gerade auf. Und plötzlich hatte ich die Vorstellung, die Infanterie beginnt zu schießen, die deutschen Flugzeuge kommen, und die Steppe beginnt erneut zu kochen.“

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