Aus der Heimat verschlagen

Russland Der Präsident ruft Hunderttausende von Landsleuten zurück

Es wird ernst im Kampf gegen den drastischen Bevölkerungsrückgang in der Russischen Föderation. Wladimir Putin hat Ende August ein Dekret unterzeichnet, das sich wie ein großangelegtes Einwanderungsprogramm für Russen aus den Nachbarrepubliken liest. Es bietet potenziellen Migranten kostenlose Bahn- und Flugtickets, sozialen Beistand, Wohnraum und Arbeitsplätze - und es will nicht nur den Bevölkerungsschwund stoppen, sondern auch einer grassierenden illegalen Einwanderung begegnen.

Zwölf Regionen haben sich nach dem Willen des Staatschefs für die Aufnahme von Übersiedlern bereitzuhalten. Dazu gehören Bezirke in Sibirien und im europäischen Teil Russlands ebenso wie das Gebiet Kaliningrad - Großstädte wie Moskau und St. Petersburg sind ausgenommen.

In den Regionen sollen Unternehmen, die an qualifizierten Arbeitskräften interessiert sind, selbst für den Wohnungsbau sorgen. Der Gouverneur das Gebiets Kaliningrad, Georgi Boss, meinte gegenüber dem Magazin Kommersant Wlast, er könne das Vorhaben nur begrüßen. In seinem Gebiet gäbe es nur 8.000 Arbeitslose und ein Defizit von 40.000 Arbeitskräften. Eine Bau-Holding habe sich schon bereit erklärt, Wohnungen für 10.000 künftige Mitarbeiter zu errichten, die man als Einwanderer aufnehmen wolle.

Den drastischen Bevölkerungsrückgang hatte Putin schon in seinem diesjährigen "Bericht zur Lage der Nation" als das zur Zeit "drängendste Problem" des Landes eingestuft. Jährlich nimmt die Bevölkerung Russlands (derzeit 143,1 Millionen) um 700.000 Menschen ab. Gründe sind eine sinkende Geburtenrate und die extrem niedrige Lebenserwartung der Männer. Russen werden im Durchschnitt 58 Jahre alt, das Durchschnittsalter der Russinnen liegt dagegen bei 72 Jahren. Der Kreml-Chef ließ bereits das Kindergeld erhöhen und jungen Familien günstige Baukredite einräumen, doch sind von diesen Maßnahmen kurzfristig kaum Effekte zu erwarten.

Gegenwärtig werden in Russland zwischen fünf und 15 Millionen illegale Einwanderer vermutet. Viele siedeln sich in Großstädten an, wo die Infrastruktur oft überlastet ist und die ethnischen Konflikte köcheln. Außerdem gehen dem Staat mit jedem Illegalen in der Grauzone von Gelegenheits- und Schwarzarbeit Milliarden Rubel an Steuereinnahmen verloren.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion brauchen Bürger aus GUS-Staaten (außer Georgien und Turkmenistan) kein Visum, um nach Russland einzureisen. Diese Regelung nutzen Millionen Arbeitsimmigranten, die sich oft ohne offizielle Papiere in Russland niederlassen. Sie kommen aus den Armutsregionen in Moldawien, der Ukraine, Georgien, Armenien, Kirgistan und Usbekistan, arbeiten oft zu Dumpinglöhnen auf dem Bau, auf Märkten oder in Reinigungsfirmen, um zu überleben.

Unklar ist, an wen sich das präsidiale Programm genau richtet. Wladimir Putin gibt in seinem "Erlass" zu verstehen, man wende sich an "Sootetschestwenniki" (Landsleute), ehemalige Bürger Russlands, die inzwischen Staatsbürger einer der postsowjetischen Republiken sind, sowie an ehemalige Bürger, die teilweise noch vor der Selbstauslöschung der UdSSR, in westliche Länder emigrierten.

Konstantin Poltoranin, der Sprecher der russischen Einwanderungsbehörde, erklärt hingegen, "Sootetschestwenniki" seien nicht nur Russen, Ukrainer und Weißrussen, sondern auch Tataren, Baschkiren und Tschetschenen, sprich: alle Nationalitäten, die in der Sowjetunion lebten. Ein großer Teil der russischen Öffentlichkeit ist jedoch der Meinung, "Sootetschestwenniki", das seien vorzugsweise Russen, vielleicht noch Ukrainer und Weißrussen, aber keine muslimischen Nationalitäten. Immerhin leben in Russland - besonders an der Wolga und im Kaukasus - derzeit 20 Millionen Moslems.

Spätestens wenn Übersiedler vor den russischen Missionen in Taschkent, Bischkek, Tbilissi und Chisinau stehen, werden sie erfahren, wie die Mitarbeiter der Konsulate den Begriff "Landsmann" auslegen. Im Zweifel dürften offene Fragen wie bisher mit Geld geregelt werden. Im russischen Konsulat von Taschkent bekommen selbst ethnische Russen Pässe nur gegen ein Schmiergeld.


Einbürgerung in Russland

Geregelt ist das Verfahren durch das "Gesetz über die Staatsbürgerschaft". Es gibt dabei das "normale" und für Bürger aus GUS-Staaten das "vereinfachte" Verfahren. Das bedeutet, ein Ausländer kann, fünf Jahre nachdem er das Wohnrecht bekommen hat, einen Antrag auf die russische Staatsbürgerschaft stellen, vorausgesetzt, er beherrscht die russische Sprache und verfügt über ein Einkommen. Die erste große Hürde für Ausländer aus dem Westen ist in der Regel das Wohnrecht, das nach einem Kontingentverfahren vergeben wird. So wurde beispielsweise 2005 in Moskau nur 1.000 Ausländern, die von außerhalb der GUS kamen, das Wohnrecht zugestanden. Es gibt jedoch Ausnahmeregelungen. Ausländer, die besondere berufliche Qualifikationen vorweisen, können schon nach einem Jahr einen Antrag auf Staatsbürgerschaft stellen.

Für Bürger aus GUS-Staaten, mit Ausnahme Georgiens und Turkmenistans, gilt die "vereinfachte" Einbürgerung. So kann ein Ukrainer schon ein Jahr nach der Registrierung in Russland einen Anspruch auf die dortige Staatsbürgerschaft haben - im vergangenen Jahr wurde sie insgesamt 508.000 Personen verliehen.

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