Es gab zuletzt für den Präsidenten ernüchternde Bescheide von Demoskopen der „Ukrainisch-Soziologischen Gruppe“. Gäbe es Wahlen, würde die prorussische „Oppositionsplattform – für das Leben“ mit 25,7 Prozent stärkste Partei. Auf Rang zwei käme die Partei von Ex-Staatschef Poroschenko mit 20,1 Prozent, dahinter lägen Selenskis „Diener des Volkes“ mit dem Wert 16,6. Wie reagiert der auf ein solches Umfrageergebnis? Indem er als Hardliner in Erscheinung tritt, Ermittlungen gegen prorussische Politiker einleiten und Verstärkung an die Front zu den „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ in der Ostukraine verlegen lässt.
Am 29. Januar untersagte der Nationale Sicherheitsrat der moldauischen
dauischen Fluggesellschaft JET4U S.R.L. und dem portugiesischen Unternehmen JET4U LDA die Geschäftspraxis, in Privatjets Politiker der „Oppositionsplattform“ nach Moskau zu fliegen. Davon betroffen ist u. a. deren Vorsitzender Viktor Medwedtschuk, der seine Kontakte genutzt hatte, damit der Gesprächsfaden zwischen Moskau und Kiew nicht ganz abreißen konnte. Als im Frühjahr 2014 die Gefechte im Donbass begannen, hatte die Ukraine ihren Luftraum für Passagierflüge aus Russland geschlossen und zugleich den Verkehr ihrer Gesellschaft UIA mit Moskau eingestellt, nur für gecharterte Maschinen boten sich Lücken, die nun offenbar geschlossen werden.Patenonkel PutinDer Geheimdienst SBU wirft Medwedtschuk vor, in den illegalen Handel mit Kohle aus der „Volksrepublik Lugansk“ und der Ukraine verwickelt zu sein. Mit den Erträgen finanziere er den „Terrorismus der Separatisten“ im Osten. Tatsächlich war Medwedtschuk bisher in der Ukraine ein Wanderer zwischen den Welten und vermittelte, wenn Gefangene auszutauschen waren oder die Krim mit Strom versorgt werden sollte. Der versierte Jurist, zu Sowjetzeiten Rechtsanwalt und von 2002 bis 2005 Kanzleichef bei Präsident Leonid Kutschma, trat immer für einen Dialog mit Russland ein, was sicher auch auf persönliche Beziehungen zurückging. 2004 wurde Wladimir Putin Patenonkel der jüngsten Tochter Daria.Nach dem Willen von Selenski soll eine halboffizielle Diplomatie, wie sie Medwedtschuk betreibt, künftig unter Strafe stehen. Schon bald dürfte die Rada ein Gesetz beschließen, nach dem ukrainische Politiker und Beamte, die ohne Regierungsauftrag mit Vertretern des russischen Staates, der Krim oder der „Volksrepubliken“ sprechen, fünf Jahre lang ihren Beruf nicht mehr ausüben dürfen.Präsident Selenski geht indes nicht nur gegen Russland-freundliche Politiker vor, sondern will jede Russland-Freundlichkeit aus der Ukraine verbannen. Am 2. Februar gab er Order, die Fernsehkanäle NewsOne, ZIK und 112 abzuschalten. Die Begründung: Sie würden prorussische Propaganda betreiben. Ultranationalisten waren voll des Lobes, synchron zum Betriebsverbot für die inkriminierten Medien veröffentlichte der 25-jährige Sergej Sternenko die persönlichen Daten und Adressen von 177 ehemaligen Mitarbeitern der drei Stationen. Man müsse verhindern, dass diese Kader nunmehr in „normale Medien einsickern“. Kurze Zeit später erwischte Sternenko der lange Arm des Gesetzes, freilich in einer anderen Sache. Ein Gericht in Odessa verurteilte ihn wegen Entführung und Folter eines prorussischen Abgeordneten zu sieben Jahren Haft. Daraufhin lieferten sich in Kiew Tausende von Nationalisten eine Straßenschlacht mit der Polizei.Auch Kritiker im Ausland sind Selenski suspekt. Mitte Februar wurde bekannt, dass gegen den populären Video-Blogger Anatoli Schari, der seit 2012 als anerkannter politischer Flüchtling in der EU lebt, in Kiew ein Strafverfahren wegen Landesverrats eröffnet wurde. Der Investigativjournalist Schari, der 2011 wegen Morddrohungen nach Litauen geflüchtet war, hatte sich nach dem Maidan als scharfzüngiger Kritiker des Präsidenten Poroschenko einen Namen gemacht, sein Video-Kanal zählte 2,4 Millionen Abonnenten. Zur Vernehmung in Kiew erschien Schari nicht und erklärte: Er habe Angst um sein Leben.Als Selenski im April 2019 die Präsidentschaftswahl gewann, wurden in der EU Befürchtungen laut, der Poroschenko-Nachfolger könne gegenüber Russland zu konziliant sein. Im Wahlkampf hatte Selenski einen Frieden in der Ostukraine als sein wichtigstes Ziel bezeichnet. Allerdings ließ er offen, ob das die russische Minderheit im Land diskriminierende Gesetz, das Ukrainisch zur allein offiziellen Sprache im öffentlichen Raum erhebt, in Kraft treten solle – seit dem 16. Januar 2021 ist es beschlossene Sache.139 Zwischenfälle im FebruarWas den Osten angeht, kam es unter Selenski zwar an einigen Frontabschnitten zur Truppenentflechtung, bei der sich beide Seiten um einen Kilometer zurückzogen, doch war dies für Kiew eher eine Konzession an die Kriegsmüdigkeit im Land. Wie es scheint, ist die Taube mittlerweile mehr ein Falke. Längst beschießen ukrainische Truppen wieder Dörfer auf dem Boden der „Volksrepubliken“, allein in den ersten beiden Märzwochen kam es zu zwölf Angriffen, in Februar im Raum Lugansk und Donezk zu 139 Zwischenfällen. Per Gesetz soll künftig geregelt sein, dass Reservisten innerhalb von 24 Stunden für diesen Krieg mobilisiert werden können.Es ist müßig, darüber zu spekulieren, was Selenski zu einer harten Linie treibt. Ukrainische Militärs, die auf mehr westliche Militärhilfe hoffen? Kräfte in der NATO, die Russland an die Konfrontation mit der Ukraine ketten wollen? Oder die bescheidene Bilanz von Selenskis Sozialpolitik. Das Resultat jedenfalls ist eindeutig: Es werden Menschen verletzt und getötet, Wohnhäuser und Straßen zerstört. Und Präsident Biden wird Selenski kaum in Richtung Entspannung lenken.Die USA wie die EU beschäftigen vorrangig zwei Ukraine-Themen: die nach wie vor fehlende ökonomische Effizienz und eine Reformen neutralisierende Korruption. Hinzu kommt das Angebot zum Land Grabbing, seit Ausländer über Mittelsmänner Landnahme betreiben können. Wenn gefordert wird, doch endlich alle Oligarchen zu entmachten, bedeutet das in der Praxis nicht mehr, als Platz zu schaffen für westliche, kapitalträchtige Investoren. Ein autoritär agierender Selenski wird ihnen zur Hand gehen.