Die Knochen-Mahlmaschine

Ukraine Die Restaurant-Kette "Holding of Emotion" wirbt in Lemberg mit den skurrilsten Themen-Restaurants. Manche davon sind Vorposten eines antirusisschen Nationalismus

Hinter der schweren Holztür des Restaurants Kryjivka empfängt ein beleibter Türsteher in Landser-Uniform, der ein altes deutsches „Schmeisser“-Maschinengewehr im Anschlag hält. Wenn der Gast das Codewort Slawa Ukraina! (Es lebe die Ukraine) sagt, antwortet der Soldat mit Gerojam slawa! (Es leben die Helden) und lässt den Besucher herein. Wie er heißt, will ich von ihm wissen. „Wasel – auf amerikanisch Bill.“

Das Kryjivka gilt als eines der skurrilsten Themen-Restaurants in Lemberg und wird von Touristen nur so überrannt. Das in einem Kellergewölbe gelegene Etablissement soll an einen Unterstand der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) erinnern, die von 1941 bis 1944 als Verbündeter der deutschen Wehrmacht zur Seite stand. Von ihren Erdbunkern und anderen Verstecken aus kämpften die passionierten Nationalisten der UPA noch bis 1953 gegen die Sowjetmacht.

Dass UPA-Soldaten 1941 an Juden-Pogromen beteiligt waren, sei eine Lüge, meint Ilko Lemko, Historiker in der Stadtverwaltung von Lemberg. „Juden-Pogrome – das waren verarmte Polen.“ Im Übrigen finde er nichts weiter dabei, dass die ukrainische Nationalbewegung ab 1941 mit Deutschland kollaboriert habe. „Denken Sie an den amerikanischen Bürgerkrieg. Als sich die Aufständischen von der englischen Vorherrschaft befreiten, haben die auch das Bündnis mit den Franzosen gesucht.“

Nicht weit vom Lokal, das sich in der Judengasse von Lemberg niedergelassen hat, kann man in der Schidowskaja Kneipa jüdische Küche kosten. Hier ordert der Gast nach dem Menü keine Rechnung, sondern muss mit der Bedienung über die zu zahlende Zeche feilschen. Schidowskaja Kneipa und UPA-Unterstand gehören zu einer Restaurant-Kette, der Holding of Emotion.

Den Touristen in Lemberg wird zweifellos viel geboten. Nicht nur mit einem Sortiment ausgefallener Herbergen. In der Altstadt kann man sich an Renaissance- und Barock-Bauten satt sehen. 1998 wurde das historische Zentrum zum UNESCO-Welterbe erhoben. Und seither kommen pro Jahr im Schnitt eine Millionen Touristen, vorzugsweise aus Polen, Russland, Deutschland und der Ost-Ukraine. Es seien noch viel zu wenig, heißt es in der Stadtverwaltung, wo man begehrlich nach Krakau mit seinen acht Millionen Besuchern jährlich schaut.

Irgendwie durchschlagen

Allein Tourismus nährt die Stadt mit ihren 760.000 Einwohnern, weil seit dem Ende der Sowjetunion aus Fabriken leere Hüllen des Verfalls wurden. Einst liefen dort Fernsehmonitore vom Band, gab es eine Fertigung von elektronischen Bauteilen für die Rüstungsindustrie. Insofern fristen die Lemberger heute inmitten all der Barock- und Renaissance-Pracht ein ärmliches Dasein mit Renten bei umgerechnet 120 und Durchschnittsverdiensten bei umgerechnet 150 Euro. Es gibt zwar eine staatliche Krankenversicherung, doch wer ins Hospital eingeliefert werde, müsse den Arzt schmieren, heißt es. Vor allem aus den Dörfern der Westukraine treibt es viele Menschen zum Arbeiten nach Polen, in die Russische Föderation, nach Belgien oder Italien. Ein etwa 55 Jahre alter Elektriker erzählt, er habe fünf Jahre in Sankt Petersburg als Gastarbeiter auf dem Bau Geld verdient. Von den Russen halte er aber nicht viel. Sie seien „zu faul“, um Ukrainisch zu lernen. „Nun fordern sie Russisch als zweite Sprache in der Ukraine.“ Der jetzige Präsident Viktor Janukowitsch, der sei doch unfähig die Ukraine voranzubringen. Sein Donezk-Clan breite sich immer mehr aus und kaufe jetzt auch noch alle Unternehmen in der Westukraine auf.

Irgendwie schlagen sich die Bürger von Lemberg durch. Ein Verwandter von ihm, so erzählt der Elektriker, baue Bohnen an. Die Ernte, 15 Tonnen im Jahr, schaffe er nach Polen. Dort bekäme man für ein Kilo immerhin einen Dollar. Schwarzhandel mit dem Nachbarn gehöre weiter zu den wichtigen Einnahmequellen einer sich selbst überlassenen Region. Es würden immer noch Wodka und in der Ukraine produzierte westliche Zigarettenmarken nach drüben geschmuggelt und verkauft, wird einem in der Stadt erzählt, auch wenn die Geschäfte schwieriger geworden seien, seit Polen zur EU gehöre.

Die meisten Westukrainer bekennen sich zur griechisch-katholischen Kirche, was mit der Habsburger und polnischen Vergangenheit der Gegend zusammenhängt. Zu den Neujahrssitten dieser Glaubensgemeinschaft gehören Gruppen, die auf den Plätzen der Stadt über Jesu Geburt singen. Die Sänger verkleiden sich mehrheitlich als Könige, führen einen Teufel mit rotem Gesicht im Tross, dazu den Tod in schwarzem Gewand und einen Moschka, einen Juden mit einem langen zotteligen blonden Bart und dunkler Sonnenbrille. Der Moschka trägt einen schwarzen Koffer. Darinnen bewahrt er sein Geld auf, wird einem die makabre Symbolik erklärt. Einmal sah ich auf solch schwarzem Koffer in knalligem Gelb die Worte aufgesprüht – Made in Israel.

Der Lager-Tango

Niemand scheint sich über diese Art von Humor zu erregen. Ein Passant mittleren Alters meint, „Christus wurde doch von einem Juden für 30 Silberlinge verkauft“, und ein junger Lemberger, der sich als Informatikstudent vorstellt, ergänzt, „vor vielen hundert Jahren besaßen die Juden in unserer Gegend alle Kneipen, während die Bevölkerung bei ihnen hoch verschuldet war.“ In der Beis-Aharon-Synagoge frage ich, was man dort von den öffentlichen Auftritten des Moschka hält. Joina Potjagailo, Jahrgang 1944, winkt ab. „Antisemitismus gibt es überall“. Wirklich schlimm seien die Schmierereien, die man immer wieder auf jüdischen Gedenksteinen oder anderswo in Lemberg finde. An der Synagogen-Mauer habe jüngst gestanden, „hier beten die Beschnittenen“, und am Denkmal für das Ghetto: „Juden, wer büßt für Demjanjuk?“. Dieser Ukrainer war einst KZ-Aufseher und steht derzeit in München vor Gericht.

Alexander Saslawski erinnert sich, dass man den 27. Juli „früher“ noch als Tag der Befreiung durch sowjetische Truppen im Jahr 1944 gefeiert habe. Heute werde davon gesprochen – und zwar offiziell –, dass „1944 die Okkupanten kamen“. So werde Geschichte „auf den Kopf gestellt“, meint der 73-Jährige. Wie manch anderer Jude in Lemberg hat Saslawski eine dramatische Familiengeschichte. Sein Vater starb in der Schlacht um Leningrad. „Er hat kein Grab – liegt irgendwo in einem Moor.“ Warum er mit Joina Potjagailo in die Synagoge gehe? „Einfach, um zu reden.“ Viele jüdische Sitten kenne man nicht mehr. „In der Sowjet­zeit haben wir die jüdische Kultur fast vollständig verloren.“

Seit die ultranationalistische Partei Swoboda (Freiheit) in der Westukraine an Anhängern gewinnt, wird die Aufklärung über Leben und Sterben der Juden in Lemberg zwischen 1941 und 1944 immer schwieriger. Swoboda, die bei den Kommunalwahlen im Oktober die Mehrheit der Mandate im Stadtrat von Lemberg bekam, konnte über dieses Gremium inzwischen durchsetzen, dass es der jüdischen Hilfsorganisation Hesed-Arieh per Gerichtsbeschluss verboten ist, in Lemberger Schulen den Film Zwei Tangos über die Zeit der deutschen Besatzung aufzuführen. Begründung: Die Ukrainer werden durch diesen Streifen beleidigt. Ein Vorwurf, der wegen mehrerer Sequenzen erhoben wird, bei denen zu sehen ist, wie ukrainische Frauen deutschen Offizieren Blumen überreichen. Der Film-Titel bezieht sich auf einen Todes-Tango, der vom Orchester des Konzentrationslagers Lemberg immer dann gespielt werden musste, wenn Gefangene erhängt wurden.

Die von Oleh Tjahnibok geführte Swoboda folgt einem extrem anti-russischen Kurs und profitiert augenblicklich davon, dass die Ukraine mit Viktor Janukowitsch von einem Russland-freundlichen Präsidenten geführt wird. Bei der Kommunalwahl im Oktober 2010 konnte Swoboda den Stimmenanteil im Bezirk Lemberg auf 26 und im Verwaltungsbezirk Iwano Frankiwsk auf 16 Prozent steigern. Oleh Tjahnibok sieht seine Partei als nationalistischen Stoßtrupp und in der Tradition der Ukrainischen Aufstandsarmee, die einst „gegen die Moskali (Schimpfwort für die Moskauer – U. H.), die Deutschen, die Juden und andere Unreine gekämpft“ hätte.

Die Suche nach Zeugnissen aus der deutschen Besatzungszeit führt mich zu einem kleinen Museum für Neuere Geschichte am Altmarkt-Platz. Doch der Saal, der sich eben mit der deutschen Besatzungszeit beschäftigt, ist aus unerfindlichen Gründen geschlossen. Zum Glück hilft mir eine ältere, Russisch sprechende Museumswärterin. Sie schiebt einen Vorhang beiseite und schaltet das Licht in dem kleinen Saal an. Fotos und Ausstellungsstücke sprechen eine deutliche Sprache. Auf einem kleinen Schwarz-Weiß-Bild ist das „Tal des Todes“ zu sehen, eine riesige schluchtartige Kuhle, in der Juden erschossen wurden.

Der Rabbi ist stolz

In Lemberg gab es nach Warschau und Lódź ab 1941 das drittgrößte Juden-Ghetto Europas. Im Unterschied zu vielen anderen Stätten der Vernichtung befanden sich Konzentrationslager und Erschießungsplatz innerhalb der Stadtgrenzen. Auf einer Tafel liest man, dass während der deutschen Besatzung 150.000 Juden ermordet wurden. Über die Beteiligung von Ukrainern an den Pogromen und Exekutionen findet sich kein Wort.

„Und was ist das?“ – frage ich die Museumswärterin und zeige auf ein anderthalb Meter langes Gerät aus Metall. „Eine Knochen-Mahlmaschine“, so die Antwort. Wie ich später erfahre, kamen diese Maschinen 1943 zum Einsatz, als die Lagerleitung Lemberg begann, die Spuren des Todes zu verwischen – Gefangene mussten die Leichen ausgraben und die sterblichen Überreste zermahlen.

In dem Saal, der eigentlich geschlossen ist, hängt auch ein Bild, auf dem sich ukrainische Freiwillige feierlich für die SS-Einheit Galizien zum Appell sammeln. Über die Grausamkeiten gegen Juden und Partisanen, deren sich die Einheit schuldig machte, ebenfalls kein Wort. Dafür heißt es anerkennend, das Korps Galizien habe 1944, zusammen mit der 4. Deutschen Panzerarmee, „die 160 Kilometer lange Verteidigungslinie beim Ort Brody gehalten“.

Von den 47 jüdischen Gebetsräumen, die es bis 1941 in Lemberg gab, existiert heute nur noch die Beis-Aharon-Synagoge. Dank ausländischer Spenden restauriert und von Mordechai Shlomo geleitet. Der Rabbi empfängt mich im Großen Saal des Gotteshauses. „Ein Büro habe ich noch nicht.“ Shlomo kommt aus Manhattan in New York, lebt seit 1993 in Lemberg und ist damit zu den Wurzeln seiner Familie zurückgekehrt (ein Großvater starb bei einem Pogrom). „Für Historiker und Forscher lässt sich noch viel tun. In dieser Region gibt es etwa 500 Massengräber, über die man heute nichts mehr weiß.“ In vielen Dörfern habe es unter der deutschen Besatzung Massaker an Juden gegeben.

Die Menschen heute könnten mit Freiheit und Demokratie nicht umgehen, meint Shlomo. Deswegen sei die Lage der Juden schwieriger geworden. Der Antisemitismus in der Ukraine wachse seit 2005 bedenklich, seit der Revolution in Orange. „Von der Stadtverwaltung werde ich als Rabbi geachtet, doch sobald ich auf der Straße unterwegs bin, kann es sein, dass Leute über mich lachen oder herum pöbeln.“ Auch „Heil Hitler“ sei schon gerufen worden, was ihm in Kiew oder Moskau noch nie widerfahren sei. „Aber Lemberg, das ist eben Provinz.“

Der Rabbi ist stolz, dass man mit Hilfe fremder Stiftungen in den vergangenen zehn Jahren etwa 500 junge Ukrainer aus den jüdischen Gemeinden zur Ausbildung in die Vereinigten Staaten, nach Israel und Deutschland schicken konnte. Ohnehin würden sie eher im Westen eine Zukunft haben. „Nicht in der Ukraine“, ist der Rabbi überzeugt.

Ulrich Heyden berichtet für den Freitag regelmäßig aus Russland und den postsowjetischen Republiken

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