Am Nordrand Moskaus, an einer Autobahn, die nach St. Petersburg führt, steht auf einem großen Parkplatz ein Streikposten russischer Fernfahrer. Er ist das einzige sichtbare Überbleibsel einer Protestbewegung, die seit Mitte November vergangenen Jahres in mehr als 20 russischen Regionen gegen die neue Maut für Fernstraßen aufbegehrt.
Diesen Ort wählten die Streikenden nicht zufällig. Die Kunden von gleich drei großen Einkaufszentren – Ikea, Mega und Aschan – stellen hier ihre Autos ab. 15 Trucks sind mit Protestplakaten gegen die neue Fernstraßenmaut behängt. Auf einem der Poster sieht man die berühmten drei Affen, die nichts hören, sehen und sagen wollen. Auf den T-Shirts der Affen prangen die Logos der staatlichen Fern
ichen Fernsehkanäle, die über die Protestaktion gar nicht oder nur am Rand berichten. Nur die Journalisten liberaler Medien wie dem Fernsehkanal Doschd, dem Internet-Wirtschaftsportal RBK und dem US-finanzierten Radio Swoboda berichten über die Aktion der Fernfahrer.Wer sich mit den Streikenden in Ruhe unterhalten will, trifft sich mit ihnen am besten in der Küche. Die befindet sich auf der Ladefläche eines Lkw und ist mit einer Zeltplane geschützt vor fremden Blicken. Um einen großen Tisch sitzen kräftige Männer in dicken Winterjacken mit Woll- und Fellmützen auf Hockern und trinken Tee. An den Wänden stehen Holzregale, die bis oben hin mit Einmachgläsern gefüllt sind, darin befinden sich Gurken und Tomaten – Spenden von Unterstützern, Sympathisanten, die auch mit Geld und Diesel helfen würden.Platon für LkwAuf dem Tisch steht eine Torte, die ein junger Mann aus Moskau mitgebracht hat, der öfter vorbeikommt. Einer der Fahrer kocht in einer Ecke auf einem kleinen Gaskocher gerade Makaroni po Flotski, Nudeln mit Dosenfleisch. Draußen rattern Stromgeneratoren, die für Licht sorgen. Manchmal hört der Generator auf zu arbeiten, dann geht auch die einzige Lampe an der Decke der Küche aus. Die Kontakte zu Privatpersonen aus Moskau, die bereit sind, Streikende für ein Bad in einer Privatwohnung abzuholen, sind an die Wand gepinnt, fast alle nutzen sie. Sie leben hier wie in einem Zeltlager, fernab der Familie. Abends schauen sie zusammen patriotische Filme.Seit Mitte November wird die neue Maut mit dem wohlklingenden Namen Platon für Lkw über zwölf Tonnen berechnet. Sie trifft vor allem die kleinen Speditionen, bei denen die Fahrer oft auch Eigentümer des Lastzugs sind. Für zwei Millionen russische Lkw wurden Geräte produziert, die eine Funkverbindung zum Satellitensystem Glonass herstellen. Das Platon-System schreibe den Fahrern dann die Routen auf möglichst vielen kostenpflichtigen Straßen vor, erklärt einer der Streikposten. Wie viele Pausen man macht, wo man hält, all das könne jetzt überwacht werden. Das sei im Westen auch so, begründete der Kreml die Maßnahme. Die Einnahmen sollen in die Sanierung gesteckt werden.Die Mittvierziger am Rand von Moskau, müde, unrasiert, stammen aus der Provinz, der Ural-Stadt Tscheljabinsk oder Saratow an der Wolga. Sie haben nach der Schule angefangen zu arbeiten, meist auf dem Bau oder als Schweißer. Nach dem Militärdienst konnten sie ihren Traum wahrmachen und Fernfahrer werden. „Ich habe ein Rückenleiden und Herzprobleme!“, mischt sich der Koch ein. Um den Krankenhausaufenthalt zu bezahlen, habe er seinen Truck verkauft und jetzt einen kleinen Kühlwagen. Die Arbeitszeiten seien unregelmäßig, und geschlafen werde immer im Truck, weil das Geld für Motels nicht reicht.Putins MuschikiDie Männer muntern sich mit Scherzen über einen korrupten Beamten aus dem Transportsektor auf. „Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich jetzt auf den Kanaren Urlaub machen und nicht hier sitzen“, meint ein Mann aus Tscheljabinsk. Nach einer Umfrage des privaten Meinungsforschungsinstituts Lewada unterstützt die Mehrheit der Befragten die Proteste der Fernfahrer, denn sie treffen einen Nerv. Leistungen, die früher der Staat finanzierte, müssen heute vermehrt vom Bürger getragen werden. Parkplätze im Zentrum von Moskau werden fast alle kostenpflichtig, Wohnungseigentümer in Mehrfamilienhäusern sollen für die Grundsanierung der Häuser aufkommen. Geld wird auch in Schulen für zusätzliche Nachhilfestunden und Spielgruppen nach dem Unterricht verlangt, in Krankenhäusern für Operationen. So hoffen Sympathisanten aus den liberalen und linken Milieus, dass die Maut-Proteste zum Zündfunken für größere Widerstände werden.Aleksandr Tscherewko ist Fernfahrer aus Saratow. Der 44-Jährige mit den dünnen Lippen und den knochigen Wangen rechnet vor, warum sich sein Geschäft mit der Einführung der Maut nicht mehr lohnt. Mit seinem Volvo-Truck beliefere er kleine Betriebe aus der Lebensmittelbranche, aber auch Tochterfirmen des deutschen Henkel-Konzerns. Obwohl er im Monat 10.000 Kilometer fahre, bleibe ihm wegen der Abgaben nur ein Gewinn von monatlich umgerechnet 610 Euro. Davon müsse er Transportsteuern bezahlen und Ersatzteile kaufen. Wenn die Maut im März verdoppelt wird, müsse er weitere 360 Euro abgeben.Kreml und Regierung hüten sich, die Fernfahrer als Extremisten oder Vaterlandsverräter zu brandmarken. Trucker gelten in Russland als Helden, als unbestechliche Männer, ähnlich den Bergarbeitern. Das weiß auch Wladimir Putin, der bei seiner Jahreskonferenz im Dezember erklärte, die Fernfahrer seien ihm symphatisch, da er selbst aus einer Arbeiterfamilie stamme. Freundschaftlich nannte er die Streikenden Muschiki, Männer, die keine Strapaze scheuen, Männer, die sogar durch sibirische Schneewüsten fahren. Putin kritisierte dann aber auch die Fernfahrer der kleinen Speditionen, viele ständen nicht unter der Kontrolle der Finanzbehörden. Doch nicht so schlimm also, wenn sie pleitegehen.
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