Nachdem Box-Star Wladimir Klitschko und Rock-Star Ruslana zu den Menschen auf dem Kiewer Platz der Unabhängigkeit gesprochen hatten, stand unversehens auch Polens Ex-Präsident Lech Walesa auf der Tribüne. Der einstige Solidarnosc-Führer rief jedoch nicht zum Generalstreik wie vor ihm Oppositionsführer Viktor Juschtschenko, sondern empfahl sich als "Vermittler" im Konflikt um die Macht in der Ukraine. In Moskau hatte zu diesem Zeitpunkt der Politologe Sergej Markow die interessierte Öffentlichkeit bereits vorgewarnt: der Besuch Walesas sei Teil einer Strategie bestimmter Kreise in den USA und Polens, die vorzugsweise auf die Söhne des ehemaligen US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, aber auch diesen selbst zurückgehe.
In der Tat war einer der Brzezinski-Söhne jahrelang Präsident der ukrainisch-amerikanischen Handelskammer, der andere Berater der Republikaner im US-Kongress. Ihnen zur Seite steht nach den Erkenntnissen des Kreml nahen Politologen Markow auch der Pole Andrian Karatnizki, seines Zeichens Leiter der US-Stiftung Freedom House, der "Polittechnologen" aus Belgrad für den Einsatz im ukrainischen Wahlkampf angeheuert habe. Denen sei das "Szenario" für das Juschtschenko-Projekt zu verdanken.
Polen, so Sergej Markow, versuche sich augenblicklich als Schutzpatron der Ukraine, um das eigene Gewicht in Europa zu erhöhen. Doch sei den Ukrainern von einem solchen Patronat dringend abzuraten, schließlich habe Polen die Ukraine Jahrhunderte lang unterdrückt und betrachte deren Bürger bis heute als "Menschen zweiter Klasse". Es passt zu dieser Lesart der Kiewer Geschehnisse, dass die russische Duma gerade den 7. November als Feiertag gestrichen - der Jahrestag der Oktoberrevolution war zuletzt als "Tag der Eintracht" gefeiert worden - und durch den 4. November ersetzt hat, der die Russen an die Befreiung Moskaus von polnischer Okkupation im Jahre 1612 erinnert.
Die These von der rot-weißen Attacke und einer polnisch-amerikanischen Verschwörung hat nur einen Haken. Sie erklärt nicht, warum sich Hunderttausende in Kiew bei tiefstem Frost tagelang die Seele aus dem Leib schreien und nicht weichen. Tun sie das alles nur, weil sie dafür bezahlt werden? Diesen Eindruck konnte gewinnen, wer die Berichte des russischen Fernsehkanals NTW verfolgte, als der sich mit der Besetzung des ehemaligen Lenin-Museums in Kiew durch Juschtschenko-Anhänger beschäftigte. Das mit weißem Marmor getäfelte Gebäude, das der ukrainischen Präsidialadministration gehört, wurde am 24. November zum Stabsquartier des Juschtschenko-Lagers umfunktioniert. Der NTW-Reporter warf bei seinem Report auch einen Blick in den Kassenraum des Gebäudes und kommentierte, hier würde den Demonstranten ein Tagegeld ausgezahlt - 50 Grivna, umgerechnet acht Euro.
Die perfekte Organisation rund um den Platz der Unabhängigkeit erstaunt allerdings und wirft tatsächlich die Frage auf, wie das alles finanziert wird. Die Internet-Site strana.ru hat eine Antwort parat: Oppositionsführer Juschtschenko lasse sich nicht nur von führenden Unternehmen der ukrainischen Genussmittelbranche alimentieren, sondern bekomme auch viel Geld vom "offiziellen Washington", "etwa acht Millionen" habe überdies Mäzen George Soros versprochen. Sollten diese Zahlen zutreffen, bräuchten sich die russischen Sponsoren nicht zu schämen. Laut der Moskauer Novaja Gaseta spendierten private und staatliche Unternehmen aus Russland 200 Millionen Dollar für Juschtschenkos Gegenspieler Viktor Janukowitsch. Außerdem war mit Gleb Pawlowski gleichfalls ein "Polittechnologe" nach Kiew entsandt worden, der immerhin Wladimir Putins ersten Wahlkampf im Frühjahr 2000 dirigiert hatte. Die Schuld am Autoritätsverlust des Regierungslagers in Kiew schob Pawlowski im russischen Fernsehen diesem selbst zu - leider sei die ukrainische Führung zum Teil einfach "unfähig", ließ er wissen.
Die Attacken auf "slawisches Stammland" werden nach dem Eindruck in Moskau nicht nur vom Westen, sondern auch vom Süden her geführt. Immer wieder zeigten russische Fernsehkanäle georgische Fahnen, die auf den Kundgebungen in Kiew auftauchten. NTW zitierte sogar die Grußbotschaft, die der georgische Präsident Saakaschwili in ukrainischer Sprache - der Schewardnadse-Nachfolger hat in Kiew studiert - in Richtung Dnjepr schickte. Allenthalben sind in Moskau Einkreisungsängste zu spüren, die vor allem eines zu erkennen geben: Das größte Land der Erde hat den Zerfall der Sowjetunion auch nach mehr als einem Jahrzehnt noch immer nicht verkraftet.
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