Moskau erlebt in diesen Wochen einen ungewöhnlich warmen Herbst. Nach einer russischen Volksweisheit fällt am 14. Oktober im europäischen Teil des Landes, der bis zum Ural reicht, der erste Schnee. 2020 jedoch kann man an diesem Tag in der Hauptstadt bei 18 bis 20 Grad plus in leichter Jacke und ohne Mantel spazieren gehen. So nutzen viele Moskauer trotz der Corona-Pandemie den langen „Babje Leto“ (Altweibersommer), um das renovierte Hauptgebäude des Flusshafens zu besichtigen, der am Chimki-Stausee in Richtung der nordwestlichen Stadtgrenze liegt. Vor genau zehn Jahren musste das gut 150 Meter lange, 1937 in Betrieb genommene Passagierterminal wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. Nun hat es nicht einmal 24 Monate gedauert, die Anlage in Rekordzeit aufwendig zu erneuern. Selbst der Park, der das Ensemble weiträumig umschließt, wurde vollständig rekultiviert.
Noch in den 1990er Jahren hatte es an Geld gefehlt, um die Hafenanlagen zu sanieren. Regenwasser lief durch die Flachdächer, Wände waren durch gerissenen Beton in einem maroden Zustand, auf den Galerien wuchsen Büsche und Birken. Man sah allzu deutlich, dass von der Stadtverwaltung kein Rubel mehr investiert wurde. Das Hauptgebäude hatte erkennbar bessere Zeiten gesehen, so heruntergekommen, wie es war, wirkte es wie eine verwitterte Diva in Dunkelgrau.
Hafen der fünf Meere
Dabei hatte diese Hafengegend für den Inlandstourismus stets eine enorme Bedeutung. Von hier starteten ab 1937 Passagierschiffe ins Moskauer Umland, sie konnten über den Moskau-Kanal bis Sankt Petersburg auf große Fahrt gehen oder über die Wolga Nischni Nowgorod (damals Gorki) und das südrussische Astrachan erreichen. Diese Routen werden heute von Kreuzfahrtschiffen befahren, die stolze Namen tragen wie Oktoberrevolution, Georgi Schukow (der Sowjetmarschall, der 1945 Berlin befreite) oder Iwan Kulibin (Konstrukteur von Taschenuhren und Brücken).
Der Flusshafen liegt am 800 Meter breiten Chimki-Stausee. Noch vor dem Passagierterminal wurde 1932 die Staumauer gebaut und das Wasser des kleinen Chimki-Flusses dann ab November 1936 auf einer Länge von neun Kilometern gestaut. Parallel zum Bau dieser Anlage und des 128 Kilometer langen Moskau-Wolga-Kanals entstanden zwischen 1933 und 1937 die Anlegestellen des Flusshafens. Damit verfügte der Nordwesten Moskaus über ein eigenes Hafenbecken. Mit dem Moskau-Wolga-Kanal (heute Moskau-Kanal) erhielt die Stadt nicht nur dringend benötigtes Trinkwasser für ihre seinerzeit 3,6 Millionen Einwohner, sondern ebenso eine Schiffsverbindung zu fünf Meeren: der Ostsee, dem nördlichen Weißen Meer sowie dem Asowschen, Kaspischen und Schwarzen Meer im Süden.
Glanzstück der erst vor einem Monat abgeschlossenen Renovierung des Hafens ist, wie erwartet und erhofft, das zweistöckige, 150 Meter lange Terminal für Passagiere. Mit Galerien, Arkaden, Säulen und Bögen erinnert es an venezianische Paläste und wirkt wegen seiner gestreckten, schlanken Form luftig und leicht. Auf dem Dach kann man flanieren, wer unterwegs den Kopf hebt, blickt auf einen viereckigen Turm, dessen Ecken vier weiße Skulpturen schmücken. Man sieht einen Soldaten mit Gewehr, einen Matrosen, dazu eine Südländerin und einen Nordländer.
Gekrönt wird der Turm durch ein vierkantiges Spiel aus Stahl, das einen fünfzackigen goldenen Stern sowie Hammer und Sichel trägt. Das Hafengebäude selbst, dessen kurze Enden rund sind, ähnelt mit den Galerien, dem Turm und seinen Aufbauten einem Schiff mit Kajüten, Decks, Schornstein und Mast. An den Längsseiten sind 24 ein Meter breite Porzellan-Medaillons zu sehen, deren Reliefs an Vorhaben eines Fünfjahrplans aus den 1930er Jahren erinnern: den Palast der Sowjets, einen Panzer, ein Stahlwerk und einen Zeppelin. Erst recht kommt Nostalgie in der Eingangshalle des Terminals zum Tragen, wo Mosaikmuster an kathedralenartigen Fenstern die Wappen der ehemals 15 Sowjetrepubliken in leuchtenden Farben zeigen.
Der Bau des Flusshafens fiel nach 1930 in eine Periode des Übergangs von einer durch den Konstruktivismus geprägten Architektur unmittelbar nach der Oktoberrevolution zur klassizistischen Phase des repräsentativen Bauens, die erst 1955, zwei Jahre nach Josef Stalins Tod, enden sollte.
Wer sich über die Geschichte des Moskau-Wolga-Kanals ins Bild setzt, stößt bald auf Hinweise, dass für den Bau dieser Verbindung vorrangig Strafgefangene eingesetzt wurden. Da es Anfang der 1930er Jahre noch keine Schaufelbagger gab und die Schachtarbeiten kaum mechanisiert vonstattengingen, waren zeitweise bis zu 600.000 Männer mit Schaufeln und Schubkarren zu Arbeitssklaven bestimmt. Sie lebten in provisorischen Unterkünften, die zumeist Feldlagern glichen, waren Krankheiten ausgesetzt und wurden zuweilen mangelhaft ernährt.
Die Sterblichkeit damals habe bei 15 Prozent gelegen, wie die Zeitung Novije Iswestija unter Verweis auf inzwischen zugängliche historische Quellen schreibt. Auf der Website der heutigen Kanalbetreiber heißt es, diese Wasserstraße habe „nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine aufklärende Funktion“. Man fragt sich, worin die besteht, wenn die Männer, die den Chimki-Stausee angelegt und den Moskau-Wolga-Kanal gebaut haben, nirgendwo erwähnt werden. Auch eine Gedenktafel, um sie dem Vergessen zu entreißen, fehlt. Das sollte schon dazugehören, wird an sowjetische Baugeschichte erinnert, indem deren Leistungen wieder Beachtung finden und Bauwerke wie der Moskauer Flusshafen vor dem endgültigen Zerfall bewahrt werden.
Es passt zur neohistoristischen Erbepflege der Ära Putin, dass – ebenfalls im Norden der Hauptstadt – schon vor mehr als einem Jahrzehnt auf dem „Allrussischen Ausstellungsgelände“ Renovierungsarbeiten an der berühmten, 24 Meter hohen Skulptur „Arbeiter und Kolchosbäuerin“ von Vera Muchina und Boris Iofan begonnen haben. Gemeint sind die monumentalen Figuren aus Edelstahl, die energisch voranschreitend Hammer und Sichel in die Höhe halten. 2009 wurde die Skulptur mit einem Kran auf einen 34 Meter hohen Museumspavillon gestellt. Dessen Höhe erlaubt es, jenes berühmte Standbild, das schon 1937 auf der Pariser Weltausstellung gezeigt wurde, auch noch in großer Entfernung zu erkennen.
Als 2014 Sergej Sobjanin das Amt des Moskauer Bürgermeisters übernahm, wurden die Sanierungsarbeiten auf dem 1939 geschaffenen Ausstellungsgelände „Leistungen der Volkswirtschaft“ energisch vorangetrieben, davon waren Pavillons betroffen, die einst den Sowjetrepubliken oder einzelnen Wirtschaftsbranchen wie der Raketenindustrie und Weltraumfahrt, der Chemischen Industrie, dem Automobilbau und der Datenverarbeitung gewidmet waren. Dem Gelände, welches unter Präsident Boris Jelzin den Namen „Allrussisches Ausstellungsgelände“ bekam, wurde sein historischer Name „Leistungen der Volkswirtschaft“ zurückgegeben. In den wilden 1990er Jahren errichtete Verkaufsbuden und Stände ambulanter Händler verschwanden wieder.
Im August wurden ebenfalls die von einem Privatinvestor in Auftrag gegebenen Renovierungsarbeiten an dem teilweise zerfallenen „Haus der Volkskommissare der Finanzen“ im Moskauer Zentrum abgeschlossen. Das 1930 von Mosej Ginsburg im Stil des frühsowjetischen Konstruktivismus erbaute fünfstöckige Gebäude befindet sich nicht weit vom Gartenring und der US-amerikanischen Botschaft. Der im frühen Sowjetrussland bevorzugte Baustil hatte Parallelen zur etwa zeitgleich entstandenen Bauhaus-Architektur in Deutschland. Von der Rückbesinnung auf jene Epoche hat gleichsam das 1930 erbaute Kommune-Studentenwohnheim an der Moskauer Ordschonikidse-Straße profitiert, dessen Appartements, Bibliotheken und Lesesäle jahrzehntelang vernachlässigt wurden. Heute kann das reaktivierte Gebäude wieder als Internat genutzt werden.
Doch gibt es nach wie vor Kritik am Umgang mit geerbter Sowjetarchitektur. Aktivisten der Organisation „Archnadsor“ bemängeln, dass die Stadt Moskau weiterhin einmalige Gebäude abreißen lasse oder nur Fassaden erhalte, um dahinter Hotels, Büroetagen und Eigentumswohnungen zu vermarkten. Der Vorwurf: Dadurch werde die Geschichte durch eine historisierende Patina ersetzt. Vor allem gehe der Charakter der betreffenden Gebäude verloren. Allerdings greifen die großen Fernsehkanäle oder Moskauer Zeitungen diese Einwände nur selten auf.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.