Im Stadtzentrum soll die Welt wieder halbwegs in Ordnung sein. Beschossene Häuser sind notdürftig repariert, Trümmer von zerbombten Dachstühlen in Säcke gefüllt, die Straßen sauber und die Rosenbeete geharkt. Die Stadtverwaltung tut, was sie kann. Das beruhigt die Nerven und ist wichtig, damit die Flüchtlinge zurückkehren. Von den 950.000 Einwohnern ist etwa die Hälfte nach Russland oder in die Zentralukraine geflohen.
Ich bin einige Tage unterwegs im Gebiet von Donezk, um Eindrücke zu sammeln von der Lage in der Stadt, die bis vor wenigen Wochen noch heftig umkämpft war. An der Peripherie bietet sich ein anderes Bild als im zentralen Rayon, wie die Bezirke und Landkreise in der Ukraine genannt werden. Als sich im Vorort Spartak ein Pulk von Journalisten sammelt, um OSZE-Beobachter bei einer Inspektion zu begleiten, kommt eine ältere Frau gelaufen und schüttelt verständnislos den Kopf. „Das bringt doch nichts“, ruft sie den OSZE-Leuten zu. „Hier leben doch nur Menschen zweiter Klasse. Amerika macht, was es will.“
Einen Tag später treffe ich im Woroschilowski-Rayon Valentina, ebenfalls eine ältere Frau aus Donezk, die mir unbedingt eine notdürftig reparierte Schule zeigen will, deren Dachstuhl zerschossen wurde. Je länger sie mich durch das Gebäude führt, umso aufgeregter wird sie. Ihre Lippen zittern, ihre Augen werden feucht. „Weshalb musste das alles passieren? Meinen die in Kiew, dass hier zu viele Menschen leben?“ Dann kehrt sie mir den Rücken und verschwindet ohne Abschied. Auch die Jüngeren haben Angst, wirken aber gefasster. Inzwischen würden in Donezk selbst Schulkinder durch das Pfeifen vor der Detonation wissen, welches Geschoss gerade einschlägt, wird mir erzählt.
In einigen Bezirken sind Läden eröffnet worden, die Uniformen verkaufen. Die Opoltschenzi, wie die freiwilligen Kämpfer aus der Ostukraine und Russland genannt werden, erstehen dort Kampfanzüge und Kochgeschirre. Kolja, ein 20-Jähriger aus Donezk, steht hinter dem Verkaufstresen. Er könne nicht kämpfen, sagt er, weil er gerade einen Gehörschaden auskuriere. Bei den Gefechten um den Flughafen war eine Granate direkt neben ihm explodiert. Seitdem habe er ein Summen im Ohr. Er sagt, er sei noch gut davon gekommen, weil er in einer Bodensenke gelegen habe. Nicht so ein Kamerad, in dessen Unterschenkel nun 18 Granatsplitter steckten. „Ich kämpfe, weil meine Familie und meine Freunde unter diesem Krieg zu leiden haben. Meine Großmutter hatte einen Herzinfarkt. Mein Vater ist zu krank. Er hat zu mir gesagt, ich solle selbst entscheiden, ob ich kämpfen wolle oder nicht.“ Von Leuten wie Kolja werden die ukrainischen Soldaten Naziki (Nazis) genannt. Auch Ukropi ist geläufig, was übersetzt „Dill“ heißt und Verachtung für den Feind ausdrücken soll.
Zum russischen Osterfest Mitte April hatte der Hotelier Igor Krylow seine ukrainischen Verwandten eingeladen. Um die 80 Kilometer breite Pufferzone zwischen ukrainischen Soldaten und Separatisten zu passieren, mussten sie sich vier Wochen lang um Passierscheine bei der ukrainischen Verwaltung bemühen. Danach war die Freude groß, dass man sich wiedersehen konnte, um nach der mehrwöchigen russisch-orthodoxen Fastenzeit zusammen Wodka zu trinken und Fleisch zu essen. Der 48-jährige Igor, dem in Friedenszeiten mehrere Beauty-Salons in der Stadt gehörten, verdient heute sein Geld mit einer kleinen Herberge, in der Opoltschenzi, Journalisten und Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen oder anderen Hilfsorganisationen absteigen. Geschäftsreisende oder gar Touristen hat er schon lange nicht mehr gesehen. Manchmal träumt Igor vom Auswandern, aber dann hält ihn doch der Zusammenhalt unter den Menschen zurück, den es vor dem Krieg so nicht gegeben habe, erzählt er.
Zitternde Wände
Alexander Hug, den Sprecher der 350 Personen zählenden OSZE-Mission, frage ich auf einer Pressekonferenz im Park Inn-Hotel, warum seine Organisation nicht bei der Regierung in Kiew vorspreche, um das Grenzregime zu lockern? Hug antwortet, die OSZE habe kein Interesse an Flüchtlingsströmen. Man wolle, dass „die Menschen im Gebiet Donezk bleiben“. Ziel müsse es vielmehr sein, dass die Grenze zwischen der Donezkaja Narodnaja Res publika (DNR) und dem ukrainischen Kernland wieder verschwinde.
Die Mehrheit der Menschen in der „Volksrepublik Donezk“ fühlt sich zwar zu Russland hingezogen, doch ebenso stark sind familiäre Gefühle für die Menschen im ukrainischen Gebiet, hört man immer wieder. Wie soll man künftig damit umgehen? Es gibt nur vage Vorstellungen. Klar ist lediglich, dass die Mehrheit der Bewohner von Donezk sich nicht mehr vorstellen kann, einer Regierung in Kiew zu folgen, die sie seit April 2014 mit Granaten und Raketen beschießen ließ.
In der Schule Nr. 147 des Budjonowski-Rayons sprechen die Schüler mit der Lehrerin gerade über das Buch Hellblaues Fräulein des ukrainischen Schriftstellers Mykola Worony. Sie tun das in ukrainischer Sprache. In insgesamt sieben Klassen läuft der Unterricht so ab, in weiteren 13 Klassen wird auf Russisch unterrichtet. Nach dem 1. September werde sich die Zahl der Klassen, in denen man ukrainisch spreche, verringern, sagt Schuldirektorin Natalija Sucharowa. Mehrere Eltern hätten den Wunsch geäußert, dass ihr Kind in das russische Programm wechselt. „Nach der Verfassung haben die Eltern das Recht zu bestimmen, in welcher Sprache ihre Kinder unterrichtet werden.“
In einer Pause berichten die Schüler aus der Literaturklasse, dass sie alle im letzten Jahr ins „ukrainische Gebiet“ gereist seien, um Freunde oder Verwandte zu besuchen. Niemand habe sie schikaniert. Ein Junge wirft ein: „Aber in Russland ist es besser.“ Einige lachen beifällig. Dann erzählen sie von der Zeit im Februar, als die Stadt ständig beschossen wurde. Die Wände hätten gezittert. Als es ganz schlimm wurde, seien sie von den Eltern nach Hause geholt worden. Sie würden sich jetzt häufiger als früher im Fernsehen Kriegsfilme ansehen. Warum das? „Weil diese Filme zeigen, dass jeder Krieg irgendwann zu Ende geht“, meint ein Junge. „Das gibt Hoffnung.“
In der Schulkantine werden gerade die Teller vom Frühstück abgewaschen, das Mittagessen ist vorbereitet. Fisch- und Fleischkonserven kommen als Spende aus Russland, Gemüse und Kartoffeln aus den Agrarbetrieben nahe Donezk, so die Direktorin. Nur mit dem Obst gebe es Probleme. Mandarinen hätten die Kinder zuletzt im Herbst gesehen.
Als ich das Schulhaus wieder verlasse, fällt im Treppenhaus mein Blick auf einen Wandschmuck, eine Sonne mit hellblau-gelben Strahlen, in den ukrainischen Nationalfarben. Auf meine Frage, ob man das Bild so lassen werde, meint Natalija Sucharowa: „Warum sollen wir das antasten? Hier hat niemand etwas gegen ukrainische Kultur.“
Von zehn Uhr abends bis fünf Uhr morgens herrscht in Donezk Ausgangssperre. Dann hört man nur das Kläffen der Hunde, das Fauchen der Stahlhütte und in der Ferne das Wummern von Artillerie. Weil die örtliche Kokerei einen unsäglichen Gestank verbreitet, hält man die Fenster besser geschlossen. Alle hoffen auf Frieden und rechnen damit, dass der Krieg bald wieder losgeht. Die Ungewissheit darüber, was geschieht, dürfte der Grund dafür sein, dass sich die Hauptstadt der „Volksrepublik Donezk“ nur sehr langsam wieder füllt. Als sei es ein Versprechen auf bessere Zeiten, haben die meisten Geschäfte geöffnet und die Preise in Griwna und Rubel ausgewiesen. Das gilt gleichfalls für die Restaurants, in denen ein Drittel der Besucher aus Soldaten der DNR-Armee und Opoltschenzi besteht. Man sagt, erstere verdienen 360 Dollar im Monat, viel für die örtlichen Verhältnisse.
Höllische Anspannung
Eigentlich dürfen Opoltschenzi ein Lokal nicht mit der Waffe betreten, doch kaum jemand kümmert sich darum. Besonders im Juli und August 2014 sei es mit den vielen Bewaffneten schlimm gewesen, erinnert sich der Hotelier Igor. Die Opoltschenzi wollten mit vorgehaltener Pistole sein Haus „nationalisieren“. Er konnte das gerade noch verhindern. Hilfe von der Polizei erhielt er nicht. Sie hatte sich nach dem Unabhängigkeitsreferendum vom 11. Mai 2014 vorübergehend in Luft aufgelöst.
In seinem gut bewachten Amtssitz an der Universitetskaja-Straße gibt Aleksandr Sachartschenko, Ministerpräsident der DNR, eine Pressekonferenz. Seit 1. April, teilt er mit, würden wieder Renten gezahlt. Zudem plane man ein Gesetz zu den Rechten und dem Status der Opoltschenzi. Alle „irregulären Einheiten“ würden demobilisiert, käme es zu keiner Eingliederung in die Armee der Volksrepublik. Wer das nicht wolle, werde wie ein Plünderer behandelt, nicht wie ein Patriot. „Ich sage Ihnen, die Busfahrer und Krankenschwestern, die während des Beschusses gearbeitet haben, sind für mich ebenso Helden wie die Opoltschenzi.“
Zu ergänzen wäre, dass die Bewohner von Donezk sich ihre Rente auf ukrainischem Gebiet auszahlen lassen müssen, weil die Kiewer Banken jeden Geldverkehr mit dem Donbass gekappt haben. Für viele ältere Menschen ist das jedoch unmöglich. Ukrainische Soldaten, die die Demarkationslinie zur Waffenstillstandszone kontrollieren, verhalten sich oft wie korrupte Zollbeamte und verlangen Schmiergelder. Ein Markthändler sagt mir, seine Äpfel kosteten in der Ukraine pro Stück neun Griwna. In Donezk müsse er aber 25 Griwna verlangen, umgerechnet etwa ein Euro, wegen der Schmiergelder.
Hinter der Siedlung Belaja Kamenka, südlich von Donezk, auf halber Strecke nach Mariupol, steht ein Vorposten der Opoltschenzi – Schützenpanzerwagen, MG-Stellung, frisch ausgehobene Splittergräben. Zur Zeit wird nicht geschossen, auch wenn der Gegner nur ein paar hundert Meter weiter hinter einer Anhöhe vermutet wird. Es sei eine höllische Anspannung Tag und Nacht, stöhnt der etwa 30-jährige Nikolai, der Kommandeur. Wenn er etwas lese, habe er es nach einer Minute wieder vergessen, so sehr sei der Kopf beschäftigt mit all dem, was ringsherum passiere. Die ukrainische Armee lasse jetzt sehr junge Soldaten kämpfen, dahinter würden Aufpasser von der Nationalgarde stehen. Woher er das wisse? „Von den Gefangenen, die wir machen.“
Vom Bergarbeiter bis zum Staatsanwalt sind in seiner Einheit viele Berufe vertreten, auch eine Köchin und eine Apothekerin. Die meisten Männer kommen aus der Ostukraine, einige aus Moskau, ein paar aus Sibirien. Mancher Freiwillige steht auf ukrainischen Fahndungslisten. Seine Leute warteten nur auf den Befehl, endlich angreifen zu können, um die „Volksrepublik“ auf das gesamte Verwaltungsgebiet Donezk auszuweiten, sagt Nikolai. Nur so könne man die Menschen hier vor dem Artilleriefeuer der Naziki schützen. Seine Opoltschenzi leben in Erdhöhlen, drei Meter tief und von Baggern professionell ausgehoben. Das habe man selbst bezahlt, beteuert Nikolai. Auch die Uniformen, nur die Kalaschnikows nicht, die kämen aus Donezk.
Als ich östlich von Donezk das Bergwerk Cholodnaja Balka besuche und mit einem klapprigen Lift 800 Meter in die Tiefe rausche, sagt mir der Steiger, man habe eine dringend benötigte neue Kette aus Charkow nur gegen 1.000 Dollar bekommen. Sein Schacht brauche überall Ersatz, unter anderem neue Akkus für die Lampen an den Helmen der Bergleute, doch sei das zu teuer. Auch die kämen aus Charkow. So müssten sich eben zwei Kumpel eine Lampe teilen.
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