Es seien gut 1,7 Millionen Flüchtlinge, die gegenwärtig in ihre Heimat zurückwollten, sagt Hussein Machluf, Minister für munizipale Selbstverwaltung, auf einer Pressekonferenz in Damaskus. Besonders groß sei der Wunsch zur Heimkehr bei Syrern, die in den Libanon, in die Türkei und nach Deutschland geflohen seien. Wer Derartiges mitteilt, darf den Beweis nicht schuldig bleiben, dass die Rückkehrwelle wirklich einsetzt. Zunächst soll das am Rand des Dorfes Jdeidat Yabous kurz hinter der syrisch-libanesischen Grenze geschehen. Als Augenzeugen gebeten sind Korrespondenten aus den USA, China, Deutschland, Großbritannien und Russland. Sie sehen Ärzte in weißen Kitteln, die hinter provisorisch aufgestellten Klapptischen warten, dazu Erste-Hil
Eine Fahrt ohne Helm
Syrien Unterwegs zwischen Aleppo, Homs, Damaskus und den Golan-Höhen: Manchmal ist so etwas wie Frieden spürbar
Foto: Andrei Borodulin/AFP/Getty Images
Hilfe-Wagen der Welthungerhilfe und junge Syrer, die eigene wie palästinensische Flaggen schwenken. Tatsächlich tauchen unversehens sechs mit Assad-Porträts geschmückte Busse auf, gefolgt von Trucks, auf denen Möbel, Matratzen und Hausgerät festgezurrt sind. Als sich die Türen der Fahrzeuge öffnen, kommen Frauen mit Kindern heraus, Männer kaum. Unter freiem Himmel wird der Blutdruck gemessen und ein Sortiment an Medikamenten verteilt. Seit Anfang August sollen den Kontrollpunkt Jdeidat Yabous 2.500 Flüchtlinge passiert haben.Ein Dunst von VerwesungAm nächsten Tag soll es die gleiche Prozedur weiter südlich an der syrisch-jordanischen Grenze geben. Wieder empfangsbereite Ärzte, Helfer, Fahnen und lächelnde Grenzbeamte in weißen Hemden. Der Gouverneur der Grenzprovinz hält eine flammende Rede, um zu beschreiben, wie wichtig die Heimkehrer für Syrien seien, jetzt und überhaupt. Doch diesmal fährt kein einziger Bus, nicht einmal ein Auto vor, das aus Jordanien kommend die Länder wechselt. Der Gouverneur ist sprach- und fassungslos. Ein syrischer Dolmetscher meint, es gäbe im Nachbarland ein Interesse, dass die Flüchtlinge bleiben. „Damit lässt sich viel Geld verdienen.“ Gemeint sind offenbar die Finanzhilfen westlicher Staaten wie der Vereinten Nationen. Doch dürften viele Familien den Weg zurück auch deshalb aufschieben oder ausschließen, weil es in vielen Regionen unmöglich ist, die Kinder in Schulen zu schicken.Während des Krieges gab es in Syrien an manchen Orten jahrelang keinen Unterricht mehr. Um dieser Misere zu begegnen, habe man ein besonderes Programm, sagt Bildungsminister Chavan al-Vas vor einer Schule in der Enklave Ost-Ghuta im Großraum Damaskus. Das Gebäude, vor dem er steht, wird im Moment noch renoviert. Schüler spachteln die Wände glatt, Bauarbeiter tragen Bauholz durch Gänge, die mit Zementstaub und Unrat bedeckte sind. Derzeit würden etwa 1.000 Schulen mithilfe von syrischen und russischen Militärs renoviert, leider seien viele derart zerstört, dass man nur noch neu bauen könne, meint Chavan al-Vas. Trotzdem gibt er sich zuversichtlich, dass die für das Schuljahr 2018/19 erwarteten fünf Millionen Schüler irgendwo und irgendwie unterkommen. Notfalls werde dann im Schichtsystem unterrichtet. Es seien neue Schulbücher gedruckt und zusätzlich zu den 300.000 vorhandenen 30.000 neue Lehrer eingestellt worden.Egal, durch welche Stadt wir kommen, überall das gleiche bedrückende Bild. In Ost-Ghuta oder Homs geht es oft Hunderte von Metern, zuweilen kilometerweit an zerbombten Wohngebieten vorbei. Man riecht eine über dem Boden schwebende Dunstglocke aus Kalk, Dreck und Verwesung. Der Krieg hat Viertel um Viertel mit erbarmungsloser Gründlichkeit geflutet. Von den in einfacher Stahlbeton-Bauweise errichteten Häusern sind zumeist nur Gerippe übrig geblieben. Mit Grauen stellt man sich vor, wie hart hier gekämpft wurde und dass mancher Überlebende unter Trümmern und Schutt unentdeckt blieb.Im Zentrum von Aleppo allerdings bietet sich ein anderes Bild. In den Marktstraßen sind Zerstörungen kaum sichtbar, man erlebt geschäftige Gelassenheit. Es sind modern gekleidete Frauen zu sehen, aber auch viele in langen schwarzen Gewändern, dem Tschador und Niqab. Sie flanieren mit Freundinnen durch Basare oder sitzen in Cafés, als ob es das Normalste der Welt sei. Sobald sie unsere Journalistengruppe sehen, sind die Syrer besonders freundlich. Manche wollen ein gemeinsames Selfie. Ein Händler schenkt winzige Mengen eines mit Kardamom gewürzten syrischen Mokkas aus. Es gibt Stände mit allen möglichen Textilien, mit Unterwäsche, Blusen, BHs, als hätte es eine Zeit des IS in Aleppo nie gegeben. Zwar wurde der Ostteil der Stadt schon im Dezember 2016 von der syrischen Armee, gedeckt durch die russische Luftwaffe, von islamistischen Verbänden zurückerobert, die gleichnamige Provinz hingegen erst im Februar 2018 eingenommen.Placeholder image-1Tausende Kombattanten des Anti-Assad-Lagers erhielten mit ihren Familien freies Geleit in die nordwestliche Region Idlib nahe der Grenze zur Türkei. Ähnlich wurde nach den Kämpfen in Ost-Ghuta und an anderen Orten verfahren, waren sie von der Regierungsarmee erobert. Insgesamt an 2.500 Punkten sollen sogenannte Befriedungskommissionen unter russischer Aufsicht Abkommen mit Aufständischen geschlossen haben, bei denen neben dem freien Abzug all denen eine Amnestie versprochen wird, die wieder ins Zivilleben zurückkehren wollen.Ein junger russischer Offizier aus Moskau erzählt mir bei einem Abendessen in einem schönen Restaurant unter dem Himmel von Damaskus, wie Verhandlungen mit Aufständischen bis zuletzt geführt wurden. Mit ihnen eine Kapitulation auszuhandeln, verlange viel Fingerspitzengefühl und Flexibilität. Zumeist werde von den Freischärlern die Bedingung gestellt, dass die erste Person, die sie nach der Kapitulation empfängt, ein russischer Militär sein müsse, weil sie ihren eigenen Landsleuten nicht trauten, erklärt mir der Offizier. Weiterhin sei es üblich, Kämpfern, die sich ergeben, die Mitnahme von Waffen zu erlauben, in der Regel eine Kalaschnikow samt Munition. Dies solle den Abziehenden ein Gefühl der Sicherheit geben. Er habe erlebt, dass einige Kombattanten – teilweise sogar Kinder – Gürtel mit Sprengstoff getragen hätten. Offenbar sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass sie sich bei einem Bruch der versprochenen Abzugsgarantien in die Luft sprengen würden.Der Umgang russischer Militärpolizisten und Mediziner mit den Verhältnissen in diesem muslimischen Land wirkt ausgesprochen souverän. In einem kleinen Ort bei Homs berät ein russischer Arzt in einem Zelt eine Frau im schwarzen Niqab. Sie will ihren Sohn untersuchen lassen, bei dem schließlich Angina diagnostiziert wird. Mithilfe eines Dolmetschers unterhalten sich Patient, Mutter und Arzt, bis die schwarz Verschleierte mit einem ganzen Arm voller Medikamente abzieht.Grüne ErdnussfelderNicht weit vom Behandlungsort stehen gut 100 Menschen, fast nur Männer, die aufgeregt rufen. Sie alle hoffen noch auf eine kostenlose Konsultation im Zelt. Damit die wartende Menge die Ärzte nicht überrennt, werden diese von russischer Militärpolizei abgeschirmt. In Syrien besteht die vielfach aus muslimisch geprägten Nordkaukasiern, die sich dem Vernehmen nach in der syrischen Sprache am besten zurechtfinden. Ohnehin ist diese Art von Militärdienst bei kaukasischen Männern hoch angesehen. Ihr Einsatz in Syrien verschafft ihnen ein überdurchschnittliches Einkommen. Ansehen zu Hause allemal. Als ich Generalmajor Igor Konaschenkow frage, ob es zuträfe, dass in Syrien noch 10.000 russische Soldaten stehen, schüttelt der verständnislos den Kopf. Inzwischen habe man nicht mehr als 20 Militärjets und etwa 2.000 Soldaten stationiert, viele davon Militärpolizisten.Zurück nach Aleppo. Abends, nach Sonnenuntergang, sind die Eindrücke widersprüchlicher als am Tag. Die Geschäfte oder Bistros im Erdgeschoss der Wohnhäuser sind hell erleuchtet, die Kundschaft geht ein und aus. Doch in den oberen Etagen sieht man kaum Licht. Die Menschen gingen früh schlafen, heißt es zur Erklärung, außerdem sei während des Krieges viel von der elektrischen Infrastruktur zerstört oder gestohlen worden, deshalb die Dunkelheit. Ob das zutrifft? Sicher bin ich mir nicht.Im Industrierevier Aleppos produziert zumindest die Spinnerei der Firma Alfais mit 150 Beschäftigten wieder auf vollen Touren. Der Maschinenpark des Betriebes stammt aus Deutschland. Wie es angesichts der Sanktionen mit Ersatzteilen aussieht, will ich vom Produktionsdirektor wissen. Man habe seit 2014 keine Ersatzteile mehr aus Deutschland bezogen, teilt der mit, deshalb würden die jetzt in Syrien größtenteils selbst hergestellt. Doch wäre für den Wiederaufbau viel gewonnen, sollten die Sanktionen entfallen, sodass man zu den gewohnten Geschäftskontakten zurückfinden könne.Unsere Tour führt auch in Richtung Golan, genauer: zur entmilitarisierten Zone, in der UN-Beobachter seit 1974 den Waffenstillstand zwischen Israel und Syrien überwacht haben, 2014 aber wegen des Krieges abgezogen wurden. Ein früherer Aussichtspunkt der Blauhelme liegt in der Nähe des Dorfes Tal Kroum auf einer Anhöhe, die einer brennenden Sonne ausgesetzt ist, auch wenn ein leichter Wind für erträgliche Temperaturen sorgt. Am Horizont sieht man die Golan-Höhen, die Israel 1981 annektiert hat. Vor einem Monat erst haben die Assad-Streitkräfte die Grenzregion von der Al-Nusra-Front befreit, um sie nun gemeinsam mit russischen Militärs zu sichern. Von General Sergej Kuralenko ist zu erfahren, dass seine Einheiten die verlassenen Beobachtungsposten in der entmilitarisierten Zone wieder Gesandten der UN übergeben, sobald die in Erscheinung treten. Bis dahin sei die russische Flagge eine Garantie, „dass in der Region ab jetzt und für immer Frieden herrscht“. Anfang des Monats habe es eine gemeinsame Patrouille mit den Vereinten Nationen gegeben, deren Delegierte über Damaskus angereist seien.Etwa zur gleichen Zeit hat Alexander Lawrentjew als Syrien-Beauftragter Wladimir Putins ein Übereinkommen mit der Regierung in Teheran ausgehandelt und bekannt gegeben, dass sich iranische Milizionäre aus dem syrischen Hinterland der Grenze zu Israel zurückziehen. In einem 85 Kilometer breiten Streifen hinter der Demarkationslinie gäbe es fortan keine iranischen Waffen mehr, „die eine Gefahr für Israel sein könnten“, so Lawrentjew.Natürlich ist die Militärpräsenz auf dem Golan besonders offensichtlich, doch gilt auch für jede andere Region, die man augenblicklich in Syrien besucht, ein strenges Sicherheitsregime. Ob an Ortseingängen, Kreuzungen, Brücken oder vor öffentlichen Gebäuden – überall finden sich Checkpoints der syrischen Armee, die gegen mögliche Angriffe durch kleine Unterstände aus Beton geschützt sind. Fast immer sind diese Posten mit Porträts von Präsident Baschar al-Assad und mehreren Nationalflaggen geschmückt.Im Kofferraum unseres Fahrzeuges lagen stets Helme und schusssichere Westen bereit, doch wurden sie während der gesamten Reise kein einziges Mal gebraucht. Wir hatten einen freien Blick auf rote syrische Erde, plötzlich auftauchende grüne Erdnussfelder oder Pfirsich-Plantagen – bis wieder eine verstümmelte Stadt erreicht wurde und keinen Zweifel daran ließ, wo wir uns befanden.
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