Jeden Morgen kurz vor neun gibt es westlich von Moskau an der Ilinskonje-Chaussee das gleiche Bild. Vor der neugebauten Ganztagsprivatschule mit den weißen Säulen und dem schlossartigen Turm fahren dicke, schwarze Limousinen vor und bringen Kinder aus dem nahen Villenviertel. In der Anstalt mit dem anspruchsvollen Namen President ist alles vom Feinsten – eigenes Schwimmbad, Theater-, Musik-, Gymnastik-Säle, dazu Montessori-Lehrmethoden und Englisch ab Klasse eins. Dieses Angebot – inklusive ärztlicher Betreuung – kostet die Eltern eine schöne Stange Geld. Wer sein Kind hierher schickt, muss pro Monat umgerechnet 2.500 Euro zahlen. Auf die Frage, ob die Kinder in dieser Schule nicht zu isoliert von der Gesellschaft aufwachsen, meint deren Pressesprecherin (!), Natalia Le Lann: „Wir erziehen keine Egoisten. Es gibt Kontakte mit Waisenhäusern. Auch bei Sportwettkämpfen treffen unsere Schüler auf andere Milieus.“
Die Schule President ist nicht das einzige Privatunternehmen dieser Art im Westen Moskaus. Entlang der Ilinskoje- und Rublowskoje-Chaussee leben hinter hohen, blickdichten Zäunen und von Sicherheitsdiensten bewacht, genug Millionäre und Milliardäre, die der Meinung sind, dass ihre Kinder in gewöhnlichen Schulen nicht wie erwünscht gefördert werden.
Von den Einnahmen einer privaten Anstalt kann die Dorfschule von Jermakowo nur träumen. Der Ort liegt fünf Autostunden nordöstlich von Moskau zwischen Hügeln, Wiesen und Wäldern. Ein gelber Schulbus sammelt die Kinder in einem Umkreis von 30 Kilometern ein. Der Fahrer werde jeden Tag von einer Krankenschwester auf Nüchternheit geprüft, sagt der Schulleiter Nikolai Wostrilow. Alkoholismus sei leider eine Plage in der Provinz.
Die Gehälter der Lehrer an dieser Schule liegen bei umgerechnet 200 bis 450 Euro. Kann man davon leben? Man kann, meint Wostrilow. Zu Hause hätten alle Vieh im Stall. Außerdem würde das Jahr über stets irgendetwas geerntet – Rüben, Kartoffeln, Kohl vom eigenen Schlag, Beeren und Pilze aus dem Wald. Das Trinkwasser hole sich jede Familie aus dem Brunnen hinterm Haus. Sergej Wakula, der Deutsch und Sport unterrichtet, zeigt mir stolz seinen Gemüsegarten und die Tiere: einen Ochsen, eine Ziege, zwei Gänse, sechs Hasen, zehn Hühner. Den kleinen Hof bewirtschaftet er mit seiner Frau Ira, einer Tierärztin, die aus der Westukraine stammt. „Als wir uns 1988 kennenlernten, hatte Ira einen Zopf und sprach schlecht russisch, war aber hier bald zu Hause“, erinnert sich Sergej. Tanja und Lena, die beiden Töchter, studieren derzeit in Jaroslawl. Die Eltern sind stolz darauf, beide Kinder auf die Universität schicken zu können, das heiße allerdings, dass man sich einschränken müsse. „Am Wochenende kommen sie zu Besuch. Und am Sonntagabend, wenn es zurückgeht, packt ihnen Ira Proviantbeutel mit gekochtem Fleisch, eingelegten Pilzen und Johannisbeer-Marmelade“, erzählt Sergej. Einen Urlaub gönne er sich schon lange nicht mehr. „Wir nehmen das für die Zukunft unserer Kinder gern in Kauf.“
Nur für ein Fünftel
Die Schule von Jermakowo zählt heute noch 60 Schüler, in den siebziger Jahren waren es gut 400, doch nimmt die Einwohnerzahl im Dorf rapide ab. Die Jüngeren zieht es in die Städte. Wie soll man auch in Jermakowo Arbeit finden? Das kleine Hospital im Ort hat vor zehn Jahren das Zeitliche gesegnet. Weil 2012 der Geburtenklinik im benachbarten Poschechonje Gleiches widerfuhr, müssen die Frauen zum Entbinden in die 100 Kilometer entfernte Stadt Rybinsk. Kein Wunder, wenn nur noch etwa 700 Bewohner in Jermakowo ausharren. Es ist wie überall im ländlichen Russland – die Bevölkerung nimmt ab, und der Staat reagiert, indem er Schulen und Krankenhäuser zusammenlegt, um Kosten zu sparen.
Die in Moskau ansässige unabhängige Gewerkschaft Utschitel (Lehrer) hat errechnet, dass seit 1995 annähernd 20.000 Dorfschulen verloren gingen. Leider unvermeidlich, weil die Schüler fehlen, sagen die Behörden. Die Gewerkschaft hält dagegen, es gäbe 2013 landesweit 33.000 Schüler mehr als 2010, also warum Lehranstalten weiter abwickeln? Man wisse doch, mit den Schulen schließen die Bibliotheken, Klubs und Kinos. In diesem Jahr greifen zudem in Russland Reformen, die eine schon seit Jahren anhaltende Tendenz zur Zwei-Klassen-Bildung verfestigen. Es geht um nicht weniger als den Verzicht auf noch aus Sowjetzeiten übernommene kostenlose Leistungen. Der Milliardär Michail Prochorow hat die Interessen der Wirtschaft an dieser Reform auf den Punkt gebracht, als er meinte, wenn ein Fünftel der Schüler nur eine Grundausbildung bekäme, reiche das völlig. Und der Schriftsteller Dmitri Bykow kommentierte den Plan des Bildungsministeriums, die Zahl der Pflichtfächer zu senken, mit den Worten: „Solche Ideen kommen auf, damit in Russland keine neue Intelligenz heranwächst. Warum auch? Für die Wartung unserer Ölpipelines brauchen wir nicht die ganz Klugen.“ Weil aber die Absicht, das Bildungsangebot der Grundschulen zu beschneiden, einen Sturm der Entrüstung auslöste, wurde das Vorhaben vom Ministerium zurückgezogen. Nun aber müssen die Eltern bei einigen Fächern eine Gebühr bezahlen, die für Interessenten an den Nachmittagen unterrichtet werden – Bildung als soziale Auslese.
Wie beurteilt ein Gewerkschafter und Lehrer diesen Trend? Wsjewolod Luchowitsky, seit 34 Jahren im Beruf, unterrichtet an einer Internatsschule für talentierte Kinder an der Peripherie Moskaus russische Sprache und Recht. 2010 zählte der heute 55-Jährige zu den Mitgründern der Gewerkschaft Utschitel.
Die späten achtziger Jahre und die Neunziger – das sei für russische Pädagogen „die beste Zeit“ gewesen, schwärmt er. Durch den chaotischen Systemwechsel habe sich der Staat nicht viel um seine Lehrer gekümmert. „Wir bekamen wenig Geld, genossen aber viele Freiheiten. Man konnte sein eigenes Lehrbuch entwerfen und lehren, was man wollte.“ Es habe eine reale Konkurrenz gegeben. „Die Eltern konnten plötzlich selbst bestimmen, auf welche Schule sie ihr Kind schicken. Sie hatten Rechte, die es bis dahin nie gegeben hatte. Leider wurde seinerzeit der Lehrerberuf zur reinen Wohltätigkeit. Das heißt, wer Lehrer blieb und sich nichts anderes suchte, womit er die Familie ernähren konnte, für den war das Ganze eine Mission, für die man Opfer bringen musste.“ Mit der Präsidentschaft Wladimir Putins habe der Staat die Schrauben wieder angezogen. „Die alte sowjetische Disziplin kehrte zurück. Die Lehrer wurden wieder mehr kontrolliert, aber auch besser bezahlt.“
Dass seit dem 1. September jede Schule für ihren Haushalt selbst verantwortlich ist, hält Wsjewolod Luchowitsky für äußerst bedenklich. Wenn ein Schulbudget jetzt von der Zahl der Schüler abhänge, stehe nur eine Anstalt mit 1.000 Schülern ganz gut da. Der Direktor könne den Erhalt des Gebäudes finanzieren. Doch wenn die Schule nur 200 Lernende habe, seien die Bibliothekarin, der Psychologe und der Sozialarbeiter nicht mehr zu halten, meint der Gewerkschafter. Eine Finanzierung von Schulen nach Anzahl der Schüler werde dazu führen, dass im Zentrum Moskaus, wo viele Familien mit wenig Kindern leben, viele Häuser geschlossen werden. „Im Jahr 2018“ – so Luchowitsky – „soll es in Moskau nach Plänen des Ministeriums statt heute 2.000 nur noch 800 Groß-Schulen geben. Die Regierung argumentiert: ‚Schaut nach Amerika, dort gibt es Schulen mit 3.000 Schülern.‘ Es wird dabei freilich nicht erwähnt, dass die Lehrer in den USA energisch dafür eintreten, dass die Schulen wieder kleiner werden.“ Und wie steht die liberal gestimmte Moskauer Mittelschicht zu diesen Reformen? Die stehe allem positiv gegenüber, was mit Marktwirtschaft zu tun habe, meint Luchowitsky. „Man argumentiert, alles, was der Markt entscheidet, ist gut.“
Von Proteststimmung wegen des Schulsterbens ist unter den Lehrern in Jermakowo so gut wie nichts zu spüren. Man fühlt sich als Teil des Dorfes. Jeder kennt jeden. Ist es kein Ausweg, sich in Moskau eine besser bezahlte Stelle und ein anderes Umfeld zu suchen? Für die Jermakowo-Schule ist das Ende doch absehbar. Die Antwort ist ein klares Nein. Allein schon wegen der unbezahlbaren Mieten in Moskau, wäre das ausgeschlossen. Direktor Nikolai Wostrilow beschwichtigt. „Unsere Gehälter werden regelmäßig gezahlt. Und wir leben. Was wollen wir mehr? Was uns natürlich beunruhigt, das ist die Bildungsreform.“
Beerenreiche Gegend
„Die Ideen sind gut, aber die Realität passt nicht dazu“, wirft eine Lehrerin ein. Man hört heraus, dass es für die Jermakowo-Schule schwer wird, mit einem zugeteilten Budget auszukommen, wie es das Bildungsgesetz ab 1. September vorsieht. Was die Anstalt an Geldern erhält, richtet sich selbstverständlich auch hier nach der Zahl der Schüler. Direktor Wostrilow muss davon nicht nur seine Kollegen, sondern ebenso Reparaturen und Inventar sowie eine Krankenschwester bezahlen. Dafür bleibt kaum etwas übrig. Noch ist der Zustand des Schulgebäudes annehmbar. Die Toiletten liegen im Haus, nicht auf dem Hof. Es gibt Räume für Computerkurse und interaktive Tafeln in den Grundschulklassen, die von einem Beamer bespielt werden. Die vom Wetter gegerbten dunkelbraunen Balken des Blockbaus wirken undurchlässig gegen Kälte und Nässe. Im Winter werde es in den Klassenzimmern ziemlich kühl, erzählt Wostrilow. Die Fugen zwischen den Holzbalken seien nicht mehr dicht. Bei minus 40 Grad Außentemperatur komme es vor, dass bei 14 Grad Raumtemperatur unterrichtet werden müsse.
Im Gespräch mit ihm blitzt immer wieder die Sehnsucht nach der alten Zeit auf, als in Jermakowo noch die Landwirtschaft den Takt vorgab. Im Bezirk Poschechonje existierten bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 allein 18 Vieh-Kolchosen – davon geblieben sind noch vier. Auch die Herstellung des landesweit berühmten Poschechonski-Käses – leicht würzig und säuerlich im Geschmack – ist längst Geschichte. Diese beerenreiche Gegend und mit ihr die pastorale Provinz bleiben immer mehr sich selbst überlassen.
Ulrich Heyden schrieb zuletzt über die Theater von Moskau
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