Frühstart für „Sputnik V“

Russland Der Impfstoff ist noch in der Testphase, wird aber schon global vermarktet. Die eigene Bevölkerung ist skeptisch
Ausgabe 43/2020

Verteidigungsminister Sergej Schojgu, der Nationalist Wladimir Schirinowski und der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin verwenden sich für „Sputnik V“, den neu entwickelten Impfstoff gegen das Corona-Virus. Auf Fotos sieht man Schojgu mit nacktem Arm und Schirinowski mit nacktem Oberkörper in Klinikräumen. Sie warten auf den Einstich der Impfnadel. Der Name des Vakzins erinnert daran, dass die Sowjetunion 1957 den weltweit ersten Satelliten ins Weltall schickte und die Supermacht USA überflügelte (der Freitag 34/2020). Winkt ein vergleichbarer Triumph an der Impffront? Es hat zumindest den Anschein, dass vor amerikanischen Impfstoffen das russische Präparat zum Einsatz kommt.

Für Russland war die frühe Registratur von „Sputnik V“ am 11. August zweifelsfrei eine gezielte Marketing-Aktion. Schließlich will die Regierung in Moskau einen solchen Wirkstoff nicht nur im eigenen Land einführen, sondern auch in Asien, Afrika und Lateinamerika verkaufen. Dabei handelt es sich bei der Erforschung keineswegs um einen nationalen Alleingang. Der „Fonds für strategische Investitionen“, der führend an der Produktion und Vermarktung des neuen Impfstoffes beteiligt ist, hat mitgeteilt, dass bei der dritten Testphase – sie begann ebenfalls im August – auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und „eine Reihe anderer Länder“ einbezogen seien. Nach Angaben des Fonds wurden bisher eine Milliarde Chargen „Sputnik V“ von 20 Staaten in Russland bestellt. Vorerst werde man mit den externen Partnern imstande sein, mehr als 500 Millionen Impfdosen an fünf Länder zu liefern, doch sei dies nur ein Anfang, bevor die Produktion merklich gesteigert werde. Wo dieses Quantum an Impfdosen hergestellt werden soll, ist bisher nicht bekannt.

Corona-Zahlen steigen wieder

Bei der Bevölkerung allerdings hält sich die Impfbereitschaft noch in Grenzen. Bei einer Umfrage Ende August antworteten den Meinungsforschern des Instituts WZIOM auf die Frage „Werden Sie sich impfen lassen oder nicht?“ 42 Prozent mit „Ja, wahrscheinlich“. 52 Prozent meinten hingegen, sie würden eher darauf verzichten. Das regierungsnahe Blatt Rossijskaja Gaseta schickte daraufhin eine Reporterin zum Gamaleja-Zentrum im Nordwesten Moskaus, wo der neue Impfstoff entwickelt wurde. Dort gab Alexander Ginzburg, Leiter der „Sputnik V“-Arbeitsgruppe, die Auskunft, er und seine Mitarbeiter hätten sich bereits impfen lassen. Vom Gesetz her dürfe zwar niemand dazu gezwungen werden, nur könne er nicht zulassen, dass seine Mitarbeiter sich im Kontakt mit dem Virus infizierten. Die Reporterin fragte nach, ob denn „Sputnik V“ womöglich der männlichen Potenz schade. Der Forscher antwortete mit einem knappen „Nein“.

Jedenfalls hat die klinische Erprobung mittlerweile eine dritte und letzte Testphase erreicht, bei der 40.000 Menschen geimpft und danach beobachtet werden. Wann dieses Stadium abgeschlossen sein wird, bleibt offen. Glaubt man den Worten von Gesundheitsminister Michail Muraschko, dann ist eine Fabrikation augenblicklich „in großem Maßstab“ angelaufen. Offenkundig werden Vorräte angelegt, denn im Handel gibt es das Serum noch nicht.

Unschwer ist zu erkennen, dass alle Beteiligten unter erheblichem Handlungsdruck stehen. Folgt man den offiziellen Angaben, dann steht Russland vor einer enormen Herausforderung. Seit Anfang Oktober steigt die Zahl der Corona-Infizierten wieder auf Werte, wie es sie zuletzt Anfang Mai gab. Mitte Oktober wurden an drei Tagen jeweils über 11.000 Fälle von Neuinfizierten gemeldet. Wirklich aussagekräftige Zahlen veröffentlichen die russischen Medien nicht, ähnlich wie in Deutschland wird die Zahl der Neuerkrankten nicht ins Verhältnis zur Zahl der Getesteten und ernsthaft Erkrankten gesetzt.

Bekanntlich wird außerhalb Russlands heftig kritisiert, dass die Registratur des Impfstoffes überstürzt erfolgte. Weniger als 80 Personen seien in einer ersten Testphase geimpft worden. Die russischen Behörden bestreiten nicht, dass dieses Versuchsstadium verkürzt wurde, freilich sei „Gefahr im Verzug“ gewesen. Dass „Sputnik V“ deshalb zum Reinfall wird, ist trotzdem unwahrscheinlich. Zu groß wäre der Imageverlust angesichts der groß aufgezogenen Werbekampagne. Außerdem haben die Forscher am Gamaleja-Zentrum nicht bei null begonnen. Sie können bereits Abwehrstoffe gegen das Ebola-Virus wie den MERS-Erreger vorweisen, der 2012 erstmals im Nahen Osten auftrat und bei schweren Verläufen zur Pneumonie führen kann. Die Erfahrungen mit diesen Impfstoffen halfen bei der Suche nach „Sputnik V“, der auf der Basis von Adenovirus-Vektoren funktioniere. Das seien Träger, die genetisches Material von einem anderen Virus in eine Zelle abgeben können, liest man auf der Website des Gamaleja-Zentrums. „Dabei wird das genetische Material des Adenovirus entfernt, das die Infektion verursacht, während ein Gen mit dem Code eines Proteins von einem anderen Virus eingefügt wird.“ Dies helfe dem Immunsystem, zu reagieren und Antikörper zu produzieren, die vor der Infektion schützen würden.

Das Forschungszentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie blickt auf eine lange Geschichte zurück, es residiert in einem alten, zweistöckigen Gebäude des neoklassizistischen Stils, wie er für das Moskau der 1930er Jahre charakteristisch ist. Am Portal können Steinreliefs bärtiger Gelehrter in Augenschein genommen werden, die Bedeutendes für die Epidemiologie geleistet haben. Man sieht Nikolai Gamaleja (1859 – 1949), den Begründer der Mikrobiologie in Russland, und den Kopf von Jewgeni Pawlowski (1884 – 1965), der bei Nagetieren und Vögeln die natürlichen Reservoire von Krankheitserregern untersuchte, die Menschen gefährlich werden können. Für seine jahrzehntelangen Forschungen wurde Pawlowski 1958 mit der britischen Darwin-Wallace-Medaille ausgezeichnet.

Wladimir Putin, der sich selbst bisher nicht impfen ließ, sagte am 11. August bei einer gemeinsamen Sitzung mit der Regierung in seiner Vorstadtresidenz Nowo-Ogarjewo, eine seiner beiden Töchter habe sich den Impfstoff spritzen lassen. Anfangs sei deren Temperatur auf 38 Grad gestiegen, dann auf 37 Grad und schließlich am dritten Tag wieder auf Normalniveau gefallen. Dass es nach einer Vakzination mit „Sputnik V“ Begleiterscheinungen gibt, räumt inzwischen auch Gesundheitsminister Muraschko ein. Bei 14 Prozent derer, die sich freiwillig zur Verfügung stellten, habe es Muskelschmerzen, körperliche Schwäche und eine zeitweilig erhöhte Temperatur gegeben. Doch habe man sich zu keiner übereilten Strategie hinreißen lassen. Wie es geltenden Standards entspreche, sei „Sputnik V“ zunächst an Mäusen, Schweinen und Affen getestet worden, erst dann wurden erstmals Menschen geimpft.

Auch erkrankte Mitglieder der russischen Elite, denen das Impfen angeboten wurde? Ohne Quellen zu nennen, behauptet das die New Yorker Agentur Bloomberg, was von der oppositionellen Nesawissimaja Gaseta kommentarlos verbreitet wurde. Wie auch immer, die russische Assoziation der Organisationen für klinische Forschungen nennt die Registrierung von „Sputnik V“ übereilt und verlangt in einem Brief an das Gesundheitsministerium, den neuen Impfstoff nicht eher freizugeben, als bis die dritte klinische Testphase abgeschlossen ist. Und das in Moskau erscheinende Wirtschaftsmagazin Ekspert merkt an, die normale Testzeit für neue Medikamente betrage zehn Monate, deshalb sei „unklar, welches Ergebnis man nach einem halben Jahr erwarten kann“. Auch wenn die Defizite beim Testverfahren, dazu Skepsis und die Abwehrhaltung im Westen, einer ungehinderten Vermarktung von „Sputnik V“ Grenzen setzen, ist aus der Zeit des Kalten Krieges überliefert, dass es in solchen Situationen Lösungen gibt. In den 1950er Jahren verzeichnete die Sowjetunion Erfolge beim Kampf gegen die Kinderlähmung. Der Virologe Michail Tschumakow (1909 – 1993) präsentierte 1958 einen ersten wirksamen Impfstoff. Da die USA aus politischen Gründen nicht direkt davon Gebrauch machen wollten, übernahm die in Österreich ansässige Pharmafirma Immuno das sowjetische Patent und beauftragte 1957 die „Bundesstaatliche bakteriologische und serologische Untersuchungsanstalt“ in Wien mit Tests des Wirkstoffes. Da es nichts zu beanstanden gab, kam der Impfstoff in den Westen, wohin er „faktisch umsonst“ abgegeben wurde, wie sich der russische Forscher Alexander Ginzburg mit bitterem Unterton erinnert.

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