Grenzenloses Verlangen

Ukraine Kiew muss drastisch sparen. Für viele im Osten des Landes ist das Grund genug, sich Sorgen aus Sorge um ihr soziales Schicksal nach Russland zu sehnen
Ausgabe 16/2014
Wutbürger in Donezk. Wer erhört ihren Ruf? Wer versteht ihren Protest?
Wutbürger in Donezk. Wer erhört ihren Ruf? Wer versteht ihren Protest?

Foto: Alexander Khudoteply/ AFP/ Getty Images

In Donezk funktioniert das Leben anders, als man sich das in westlichen Lehrbüchern über Demokratie und Marktwirtschaft vorstellt. Die Menschen in der Industriemetropole mit ihren 950.000 Einwohnern waren es bisher gewohnt, sich mit den Umständen zu arrangieren. Eine Kultur, eigene Interessen durchzusetzen, gab es kaum. Alles Soziale regelten der Staat oder staatsnahe Gewerkschaften. Das ändert sich gerade. In Donezk sind sie mehr als nur beunruhigt über ihr soziales Schicksal in den nächsten Jahren.

Um Kreditbürgschaften des IWF zu erhalten, hat die Kiewer Übergangsregierung ein Sparprogramm dekretiert. Die Gaspreise für Privatkunden steigen ab 1. Mai um 50 Prozent, während die Ermäßigung für einkommensschwache Bürger entfällt. Das läuft für die meisten auf einen kräftigen Aderlass hinaus. Schon jetzt sind in Donezk die Monatslöhne – sie liegen zwischen umgerechnet 150 und 200 Euro – äußerst gering. Und das bei einer rasant verteuerten Lebenshaltung. Allein die Bergarbeiter in der Region sind mit Einkommen bis zu 550 Euro in einer etwas besseren Lage, freilich um den Preis eines katastrophalen Arbeitsschutzes. Jeden Monat sind sechs bis sieben Unfalltote zu beklagen.

Volksfeind Achmetow

Als Lehrerin muss Nina Petrowna die Streichung aller Gehaltszuschläge verkraften, mit denen sie bisher ihr Amt als Klassenlehrerin, die Abnahme von Prüfungen und die Dienstjahre honoriert bekam. Ab Mai wird sie statt 2.500 Griwna (etwa 200 Euro) nur noch 2.000 Griwna im Monat verdienen. Zugleich muss sie mehr Wochenstunden geben, statt 18 nun 24, ohne Gehaltsausgleich, versteht sich. Da wirkt es schon irritierend, wenn man in Kiew gerade jetzt die Werbetrommel für Spenden ans Vaterland rührt. Per Fernsehspot werden die Bürger aufgefordert, der Armee zu helfen. Lehrer sollten nach Möglichkeit einen Tageslohn geben. Wer sich weigere, riskiere die Entlassung, glaubt Nina. Was da verlangt werde, sei der reine „Raub am Volk“. Warum sollte die Ostukraine, die den größten Teil der ukrainischen Wirtschaft beherberge, ihr Geld an eine von Nationalisten geführte Regierung in Kiew abgeben? Wäre es eine Lösung, würden Minister aus dem Osten in das Übergangskabinett aufgenommen? „Nein“, sagt Nina, „dafür ist es jetzt zu spät. Das wollen wir nicht. Wir wollen jetzt nur noch nach Russland. Dort ist jemand, der sich um sein Volk kümmert.“

Dass die Krim fast ohne Blutvergießen das Land wechselte, befeuert die Fantasien. Doch erscheint der große Nachbar auch deshalb attraktiv, weil dort Löhne und Renten um das Doppelte höher sind als in der Ukraine. Sprecher pro-russischer Parteien treten in Donezk selbstbewusst auf, einige vermeiden separatistische Aufrufe, mit denen Gesetze gebrochen würden – andere haben vor gut einer Woche die „Volksrepublik Donezk“ ausgerufen. Der Russische Block wie die Freiwilligen des Donbass fordern Föderalisierung und Autonomie. Die Organisation Borotba (Kampf) will die Präsidentenwahl am 25. Mai boykottieren, sollte es nicht zugleich ein Referendum über mehr Selbstständigkeit für den Osten geben. Genau das hat Übergangspräsident Alexander Turtschinow Anfang der Woche in Aussicht gestellt. Ein kluger Schachzug, denn damit würden die Separatisten unter Druck gesetzt, die Waffen niederzulegen und an der Wahl teilzunehmen.

Pro-russische Demonstrationen führen in Donezk immer zum Lenin-Platz im Zentrum, wo auch das Denkmal für die „Befreier des Donbass“ steht und mit roten Nelken dekoriert ist, seit Ende Februar in Kiew Polizisten getötet wurden. Für die Opfer aus den Reihen der Majdan-Aktivisten gibt es wenig oder gar kein Mitgefühl. Denen seien doch Drogen ins Essen gemischt worden, heißt es. „Die Umstürzler sind schuld, wenn wir jetzt in Unsicherheit leben und Faschisten in Kiew regieren“, hört man.

Die meisten Protestmärsche ziehen auch am neuen Stadion vorbei. Der zur Fußball-EM 2012 errichtete Bau sieht aus wie ein Ufo, ist nachts hellblau erleuchtet und wurde durch den Oligarchen Rinat Achmetow finanziert, dem die Holding System Capital Management ebenso gehört wie der Fußballclub Schachtor Donezk. Gerät die Sportarena in Sicht, lassen Demonstranten regelmäßig Sprechchöre vom Stapel. Statt „Russland, Russland“ zu rufen, schmähen sie den „Volksfeind Achmetow!“.

Der Oligarch – in den wilden neunziger Privatisierungsjahren zu Reichtum und Macht gelangt – hatte Mitte März eine indirekt gegen Russland und die pro-russischen Kräfte in der Ukraine gerichtete Erklärung veröffentlicht. „Interne Spannungen können in einen ständigen Konflikt münden und die territoriale Integrität der Ukraine zerstören. Der Einsatz von Gewalt sowie illegale Aktionen von außen sind unzulässig.“ Kritische Worte zum fragwürdigen Machtwechsel in Kiew blieben aus.

Wie vor Achmetows „Ufo“ knattert die russische Trikolore auch entlang der Fernstraße Donezk-Charkow im Wind. Direkt hinter einem Verkehrsposten haben etwa 30 Männer im Alter zwischen 30 und 40 einen Checkpoint errichtet. „Wir wollen rechtzeitig wissen, wenn Militärs oder Leute vom Rechten Sektor kommen“, meint Andrej, ein Bauarbeiter, der aus Angst vor Repressionen seinen vollen Namen nicht nennen will. Was werden sie tun, wenn ein Konvoi anrollt? Andrej will nichts sagen. Die anderen hüllen sich ebenfalls in Schweigen.

Derartige Posten gibt es einige rund um Donezk. Seit Tagen blockieren Hunderte von Anwohnern den Salzschacht Wolodarski bei Artjomowsk. Dort lagern Schusswaffen der ukrainischen Armee. Dem Vernehmen nach in großen Mengen. Anwohnern fiel auf, dass Lastwagen anrollten und beladen wurden. Bald hieß es, die Waffen seien für die neue Nationalgarde und den Rechten Sektor gedacht. Prompt sperrte eine Bürgerwehr die Zufahrtsstraße zum Depot. Aktionen wie diese hinterlassen den Eindruck, dass der Kiewer Majdan nun vom Osten und Süden der Ukraine gespiegelt wird. Die Bilder gleichen sich, ihre Urheber ganz und gar nicht.

Für ein wenig Schmiergeld

Ein Kontrollpunkt an der Autobahn nach Charkow wird vom stämmigen Unternehmer Dmitri kommandiert. Der 32-Jährige hat ganz persönliche Gründe, hier auf Wache zu ziehen. Die 270 Mitarbeiter seiner Firma würden Anlagen aus ostukrainischen Betrieben reparieren, in denen Stahl geschmolzen werde, erzählt er. Zudem sprenge seine Firma marode Schornsteine und breche Werkhallen ab, um Platz für Neubauten zu schaffen. Seit das Land immer mehr ins Straucheln gerate, fürchte er um sein Geschäft. Die Ausfuhren von Unternehmen in Donezk, die Stahl nach Russland liefern, stockten gewaltig. „Die Wirtschaft ist im Niedergang“, klagt Dmitri. „Ich habe drei Kinder und will nicht, dass sie von einem Majdan zum nächsten leben.“ Vor Dmitris Checkpoint hält ein Minibus mit einem großen Stalin-Porträt an der Hecktür. Der Fahrer wird mit lautem Hallo begrüßt. Stalin stehe „wegen seiner Strenge“ bei den Pro-Russischen hoch im Kurs, heißt es. Viele Ältere wüssten noch, dass Donezk bis 1961 „Stalino“ hieß. Es sei ein Irrsinn, dass die Majdan-Anhänger Lenin-Denkmäler schleifen. Immerhin sei es Lenin gewesen, der Teile des russischen Donbass mit der Ukraine vereinigt habe. Daran erinnern Demonstranten, die in Donezk das schwarz-blau-rote Banner der 1918 gegründeten „Donezk-Republik“ tragen.

Unterwegs zu Dmitris Posten waren im Morgennebel links und rechts der Landstraße abwechselnd die Schemen riesiger metallurgischer Fabriken oder von Abraumhalden zu sehen. Letztere ein Relikt, denn viele Kohlengruben sind wegen Unrentabilität längst geschlossen, die Bergwerksdörfer mit ihren Mehrfamilienhäusern menschenleer. Diese Gegend sterbe allmählich aus, meint Aljoscha, der im Städtchen Schachtjorsk, 40 Autominuten östlich von Donezk, einen Internet-Laden betreibt. „Vor fünf Jahren haben in Schachtjorsk noch 72.000 Menschen gelebt – jetzt sind es 10.000 weniger.“

Latente Sklaverei

Vom Ruin vieler Bergwerke profitieren kleine illegale Gruben, sogenannte Kopanki, in denen nur zehn bis zwölf Meter unter der Erde Kohleflöze abgebaut werden. Rund um Schachtjorsk lassen sich diese Anlagen dank ihrer meterhohen Metallzäune leicht ausmachen. Allein im Raum Donezk soll es inzwischen 2.000 geben, von denen ein Drittel der Kohle im Donbass gefördert wird. Arbeitswillige gibt es genug.

Was in den Kopanki geschieht, geißelt die Donezker Wirtschaftszeitung Krjasch als „latente Sklaverei“. Passend dazu wird in Schachtjorsk erzählt, man finde immer wieder frisch gewaschene Leichen auf den Kornfeldern. Es handle sich um Arbeiter, die in den schlecht gesicherten Gruben umgekommen seien. Mutmaßlich mehr als 5.800 seit den frühen neunziger Jahren, sagt die Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft. Wenn das Geschäft mit den Kopanki blüht, hat das einen einfachen Grund. Nicht nur Unternehmer, auch Staatsanwälte und andere hohe Beamte sind Teilhaber der Todesschächte. Tauchen in Schachtjorsk Trucks mit illegal geförderter Kohle auf, winkt sie ein Verkehrspolizist heraus, erhält ein paar Griwna Schmiergeld und lässt die Fracht passieren.

Vor einem Computer im Aljoschas Laden sitzt Oleg. Der 32-Jährige sieht aus wie 45. Sein Gesicht hat eine merkwürdige graubraune Farbe. Seine Stimme ist tief und rau. Oleg hat acht Jahre lang in einemKohlebergwerk seine Gesundheit ruiniert. „Leider habe ich den Mundschutz kaum benutzt, weil der sich ständig mit Wasser voll sog.“ Einst sei er Boxer gewesen, aber jetzt müsse er beim Treppensteigen Pausen einlegen. Auf die Frage, was er sich wünsche, antwortet Oleg: „Ich hoffe, dass es meinen beiden Töchtern einmal besser geht.“ Das klingt merkwürdig aus dem Mund eines gerade mal 32-Jährigen im Osten dieses zerrissenen Landes.

Ulrich Heyden ist freier Korrespondent und derzeit in der Ukraine unterwegs

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