Dass ich in Karelien auf einen Vulkan stoßen würde, war nicht zu erwarten. Ich hatte im Herbst ein Haus am Sjam-See, acht Autostunden nordöstlich von St. Petersburg, gemietet und bald erfahren, dass es in nordöstlicher Richtung einen Vulkan gebe. Was unglaublich klang. Ich fuhr in Richtung Petrosawodsk am Onegasee und von dort weiter nach Norden zum Dorf Girvas, in dessen Umgebung man den „Girvas-Vulkan“ finden sollte. Die Ortschaft selbst war 1931 als Siedlung für Arbeiter entstanden, die seinerzeit die Staumauer für das Wasserkraftwerk Kondopoga bauten, eines der ersten in der Sowjetunion. Sobald der Stausee zu viel Wasser führte, wurde dies in eine Felsschlucht abgelassen. Als dort die Sandschicht weggespült war, entdeckte man 1967 einen 50 mal 20 Meter großen Krater und erstarrte Lavaströme.
Am Ortsrand des Dorfes kann man sein Fahrzeug abstellen, ein Hundert-Rubel-Ticket lösen (1,15 Euro) und das Gelände begehen. Am Holzzaun, der das Krater-Areal eingrenzt, stand freilich niemand, der mein Ticket sehen wollte, was vermutlich damit zu tun hatte, dass um diese Zeit kaum noch Touristen unterwegs waren. Ich stieg hinab in die Felsschlucht und erblickte bald die geronnene graublaue Lava am Kraterrand, die abgeschliffen und abgegriffen wie eine alte Münze wirkte und an manchen Stellen rosa schimmerte. Je mehr ich davon sah, desto stärker wurde das Gefühl, mich in der Werkstatt eines Künstlers aufzuhalten. Immer neue faszinierende Gebilde aus erkalteter Lava tauchten auf und erinnerten an Körper, Köpfe oder Gesichter. Einst soll der Lavastrom kilometerweit bis zu jener Stelle geflossen sein, an der jetzt die Stadt Petrosawodsk steht. Als ich das Kratergelände verließ, stieß ich am Rand des angrenzenden Fichtenwaldes auf eine Freiluftausstellung von Filmplakaten. Wie sich herausstellte, wurden in dieser Gegend vor Jahrzehnten Spielfilme gedreht wie der Weltkriegsstreifen Im Morgengrauen ist es noch still von 1972 und der Abenteuerfilm Die weiße Sonne der Wüste, für den 1970 die erste Klappe fiel.
Vorräte im Untergrund
Ich fahre weiter zum südöstlichen Ufer des 250 Kilometer langen und fast 100 Kilometer breiten Onegasees, nach dem benachbarten Ladogasee das zweitgrößte Gewässer dieser Art in Europa. Im Dorf Karschewo in der Lenin-Straße 17a beziehe ich Quartier bei Wassili und Klawdia, sie Verkäuferin in einem Lebensmittelmagazin, er freischaffender Fremdenführer. Die beiden wohnen in einem selbst gebauten, weiß vertäfelten Holzhaus. Für Touristen wie mich gibt steht daneben eine Art Blockhütte mit einem Doppelstockbett.
Was folgt, das ist eine Exkursion mit Wassilis Motorboot zur sogenannten Teufelsnase, wo es über 6.000 Jahre alte Felszeichnungen geben soll, auf dem Wasserweg erreichbar und zu bestaunen auf der Landzunge eines Naturschutzgebietes. Dort angelandet, lasse ich mein Zelt und den Rucksack zunächst im Boot, um unter Wassilis Führung am Ufer entlang Richtung Norden zu wandern. Ab und zu sind Feuerstellen von Touristen zu sehen, ansonsten gibt es keine Anzeichen von „Zivilisation“, geschweige denn Mobilfunk. Dafür klingen die Wellen des Onegasees in den Ohren eines überreizten Großstädters wie ein gedämpftes Orchester. Der Herbstwind peitscht das Wasser, wirkt aber beruhigend und trägt die Gedanken weit weg vom nervenaufreibenden Allerlei. Wir marschieren über einen breiten Strand, wo wir nach einigem Klettern über felsige Vorsprünge zu einem Granitmassiv kommen, in dessen Inneren die Zeichnungen zu sehen sind, die vor mehreren Tausend Jahren entstanden. Die Ureinwohner der Gegend haben Figuren, aber ebenso Huftiere, Vögel und Schwäne in den Stein gemeißelt und ausgemalt. Christliche Mönche nannten die Abbildungen „Werk des Teufels“, woher die Bezeichnung der Landzunge rührt.
Bootsführer Wassili fährt nach Hause, und ich bleibe allein zurück mit einer Feuerstelle und dem Rauschen der Wellen, der Fichten und Kiefern, die sich im Wind wiegen. Am nächsten Vormittag holt mich Wassili wie verabredet wieder ab. Er steuert ein altes, aber robustes Gefährt aus Aluminium, wie es in der Sowjetunion hunderttausendfach hergestellt wurde. Wir gleiten durch ein gewundenes Flüsschen heimwärts in Richtung Karschewo. Ob ich einen Bären gesehen hätte, will Wassili mit scherzhaftem Unterton wissen. Ich verneine und habe in der Begeisterung über die Nacht in der freien Natur glatt vergessen, was Wassili erzählte, als er mich zur „Teufelsnase“ brachte. Er sei im Sommer mit einer Touristengruppe unterwegs gewesen, als plötzlich ein Bär vor ihnen stand. Erst als alle Stöcke in die Hand nahmen, sei der Bär abgedreht und verschwunden. Die letzten Winter seien sei sehr kalt gewesen und daher die Bären stets hungrig, so der Bootsführer, der anscheinend keine Angst vor ihnen hat. Außerdem habe man viel Wald abgeholzt und den Tieren damit Lebensraum genommen. Das Holz gehe nach Helsinki, St. Petersburg und Moskau. Offenbar wünscht sich Wassili, entnehme ich seinen Worten, dass Karelien nicht nur liefert, sondern auch selbst etwas mehr bekommt, als üblich ist.
In Karschewo erlebe ich, was es heißt, sich in der russischen Provinz selbst zu versorgen. Wassili zeigt mir im Garten vor seinem Haus, wie er gerade an einem neuen „Podgreb“, einer Erdhöhle, baut. Für den Winter würde darin „Eingemachtes“ aufbewahrt – Marmelade, rote Bete und in Salzlauge eingelegte Tomaten, Gurken und Zwiebeln. Bei seinem bisherigen Vorratsbunker seien die Stützbalken vermodert und ein Einsturz nicht mehr aufzuhalten gewesen. Die neue Gruft sieht aus wie ein Weinkeller und verfügt nicht nur über neue Bohlen, sondern ebenso einen Stahlrahmen und ein gemauertes Fundament.
Außerdem hat Wassili eine Doppeltür eingesetzt, die als Luftschleuse dient und beim Eintreten den Frost fernhalten soll. Seine Frau Klawdia meint, dass in einem Ort wie Karschewo viele Bewohner von der Natur leben würden, indem sie Pilze und Beeren sammeln und in der nächsten Stadt verkaufen. Manche hielten eine Kuh, Platz und alte Ställe gebe es genug. Fische mit Netzen zu fangen, sei streng verboten, aber die Männer gingen trotzdem angeln. Ein Hinweis darauf, dass auch in Karelien bis zu einem Drittel der wirtschaftlichen Aktivität dem sogenannten Schattensektor vorbehalten ist. Der Staat versucht zwar, diese Domäne zu kontrollieren, indem etwa elektronische Kassen auch in kleinen Läden zur Pflicht werden oder die Geschäfte von Datschen-Kooperativen seit geraumer Zeit steuerpflichtig sind, doch eine flächendeckende Aufsicht bleibt für eine Lebensform, wie sie die Selbstversorgung auf dem Lande darstellt, wohl ausgeschlossen.
Panzer und DDR tätowiert
Klawdia führt stolz zu ihrer Neuanschaffung, zwei Kälbern beiderlei Geschlechts. Sie stehen in einem kleinen, ziemlich dunklen Stall. Leider seien sie vom Muttertier früh sich selbst überlassen worden. Die Tiere bekommen jetzt nur Heu und Wasser, sie werden gemästet und nicht auf die Weide gelassen. Das selbst gezogene Fleisch sei noch „richtiges“ Fleisch und nicht derart geschmacklos wie das, was man im Supermarkt bekommt, beteuert Klawdia. Davon angespornt, will ich am Vorabend meiner Abreise zurück nach Moskau frische Milch erwerben. Schräg gegenüber in einem schon etwas schiefen Holzhaus werde die verkauft, gibt mir Klawdia zu verstehen. Als ich dort in den Korridor trete und mehrfach rufe, ist niemand zu sehen. Ich steige in den ersten Stock, als mir plötzlich ein kleiner, muskulöser Mann mit freiem Oberkörper und in kurzen Hosen entgegenkommt. Er scheint überrascht. Nein, er habe keine Milch, das sei ein Irrtum. Aber was ist das? Auf der rechten Schulter des Mannes prangt eine große Tätowierung, ein Panzer und darüber der Schriftzug „DDR“. Ob er dort stationiert gewesen sei, will ich wissen. „Ja, in Wünsdorf“, sagt der Stämmige mit erkennbarem Stolz. Ich hätte gern noch mehr erfahren, aber er ist zu keinem Gespräch aufgelegt. Wenigstens schickt er mich weiter zur Nachbarin, die mir Milch in einem Fünf-Liter-Krug verkauft.
Was während der Tour durch Karelien auffällt: Der russische Staat muss viel in ein modernes Straßennetz investiert haben. Die Pisten sind oft besser als im Moskauer Umland – die Naturreservate, Parks, Sehenswürdigkeiten, Hotels und Campingplätze zuverlässig ausgeschildert. Offenbar ist an einen florierenden Tourismus aus den großen Städten und dem nahen Finnland gedacht. Die unberührte Natur dieser Region ist ein ideales Gebiet, um sich zu erholen. Wie wird sie überstehen, was ihr demnächst bevorsteht?
Kommentare 14
kann mir ein landes-kundiger erklären,
wieviele von den dort lebenden "russen"
nach '45 zwangs-umgesiedelte ukrainer sind?
Eine kleine Korrektur
Der neben dem Haus in den Boden gegrabene Keller heißt nicht "Podgreb".
Es ist der "Pogreb".
Das Wort "Podgreb" kenne ich nicht. Selbst als Verb hat es eine andere Bedeutung.
Eine Frage
Welche Szenen des Films "Weiße Sonne der Wüste" sollen denn im waldigen Karelien gedreht worden sein?
Christliche Mönche nannten die Abbildungen „Werk des Teufels“, woher die Bezeichnung der Landzunge rührt.
Immerhin scheint der Denkmalschutz funktioniert zu haben. Gerne gelesen.
Tatsächlich hat Karelien neben seiner natürlichen Schönheit leider auch eine traurige Geschichte die eng mit Gulag und anderen stalinschen Repressionen und Kriegen verbunden ist. Link
Eventuell berichtet Herr Heyden ein anderes Mal darüber.
ach, wer so schön über das land-leben berichtet,
würde mit der erwähnung der gewalt-geschichte dieses landes :
doch nur die stimmung trüben...
Touristische Erschließung und unberührte Natur in Einem ? Wem solche Widersprüche beim Schreiben nicht auffallen .......
Naja - einen touristischen Massensturm aus dem Inland wird es wohl kaum geben. Die meisten Russen kommentieren die Sehnsucht der Deutschen für das "idyllische Sibirien" zumeist mit kopfschüttelndem Unverständnis.
Die meisten Sibirjaken, die ich kenne, lieben ihre Heimat, wo man viele Möglichkeiten zum Angeln hat und in unberührten Seen schwimmen kann. Und ich kenne genug Deutsche, die auf dem Motorrad durch Sibirien fuhren. Bei den vielen Naturschönheiten und der russischen Gastfreundschaft wurde ihnen nicht langweilig.
According to information from the German Press Agency, this stand was evident at a switching conference of the state chancellery bosses on Saturday afternoon, which was first reported by the "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung".
http://www.templecav.org/mnop/jptv-k-v-b-rtv21.html
http://www.templecav.org/mnop/jptv-k-v-b-rtv22.html
http://www.templecav.org/mnop/jptv-k-v-b-rtv23.html
http://www.templecav.org/mnop/jptv-k-v-b-rtv24.html
http://www.templecav.org/mnop/jptv-k-v-b-rtv25.html
http://agi.alabama.gov/Tokai/jptv-k-v-b-rtv21.html
http://agi.alabama.gov/Tokai/jptv-k-v-b-rtv22.html
http://agi.alabama.gov/Tokai/jptv-k-v-b-rtv23.html
http://agi.alabama.gov/Tokai/jptv-k-v-b-rtv24.html
http://agi.alabama.gov/Tokai/jptv-k-v-b-rtv25.html
https://www.opengovawards.org/fujika/jptv-k-v-b-rtv21.html
https://www.opengovawards.org/fujika/jptv-k-v-b-rtv22.html
https://www.opengovawards.org/fujika/jptv-k-v-b-rtv23.html
https://www.opengovawards.org/fujika/jptv-k-v-b-rtv24.html
https://www.opengovawards.org/fujika/jptv-k-v-b-rtv25.html
https://admin.aiu.edu/max-hub/jptv-k-v-b-rtv21.html
https://admin.aiu.edu/max-hub/jptv-k-v-b-rtv22.html
https://admin.aiu.edu/max-hub/jptv-k-v-b-rtv23.html
https://admin.aiu.edu/max-hub/jptv-k-v-b-rtv24.html
https://admin.aiu.edu/max-hub/jptv-k-v-b-rtv25.html
Bavaria's Prime Minister Markus Söder (CSU) demanded strict restrictions for a further three weeks in "Bild am Sonntag": "The lockdown must be extended until the end of January. Premature loosening would set us back far." Other federal states severely affected by Corona also pleaded in the conference call, while less affected countries were ready to make a new decision after just two weeks.
Seit wann liegt Karelien in Sibirien ?
Aha, die Sibirjaken leben also in Karelien.
Bleibense mal bei geographisch und ethnisch bei den Tatsachen sonst ruinieren Sie den Freitag noch zu einem Relotius-Medium.
- ein geografisch berechtigter einwand.
- ob das westliche nord-rußland sich wesentlich unterschied von
sibirien dürfte aber den zwangs-arbeitern am stalin-weißmeer-kanal
kein problem gewesen sein...
s.o.
Ich hatte es bewußt in Anführungsstrichen gesetzt, weil es mir auf den touristischen Aspekt ankam (es war eher als satirischer Seitenhieb auf die deutsche Unkenntnis über Osteuropa gedacht: kalt=Sibirien). Mir ist bekannt, Karelien ist ein früheres Siedlungsgebiet der Finnen, ohne auf diesen Aspekt näher eingehen zu wollen...
Fällt mir ja echt schwer, Ulrich Heyden zu verteidigen, aber hier ist er halt auf meinen Beitrag eingegangen. Auch wenn er dabei die stete Landflucht ignoriert, die in Sowjetzeiten mit Privilegien bekämpft wurde, damit die dünn besiedelten Gebiete besiedelt und wirtschaftlich ausgebeutet werden können. Auch wenn ich in puncto Ukraine seine Beiträge durchaus mit denen von Relotius vergleiche - hier paßte die Antwort schon...