Nach 17 Stunden Fahrt komme ich am frühen Morgen mit dem Nachtzug in Saratow an, einem hochmodernen Express mit selbstöffnenden Türen, Duschen und einem Platz im Liegewagen für umgerechnet 30 Euro. Saratow liegt 850 Kilometer südöstlich von Moskau und war einmal eines der Zentren für Wolgadeutsche, die sich unter Katharina der Großen in der südrussischen Steppe ansiedelten. Von 1922 bis 1941 gruppierte sich um Saratow und Marx-Stadt eine Autonome Sowjetrepublik.
Ich fahre mit dem Taxi durch eine Steppe mit gelblich-bläulichen Gräsern, sehe Hirten mit Schafen, Kühen und jungen Pferden. Links und rechts der Straße ziehen große Schläge mit Sonnenblumen vorbei. Sie seien für die Ölproduktion bestimmt, würd
würden aber erst im Oktober – vor dem ersten Frost – geerntet, erzählt mir der Taxifahrer. Dann erreichen wir Marx mit einem großen weißen Relief vom Kopf des deutschen Philosophen am Ortseingang. 1920, nach der Oktoberrevolution, wurde der Ort, der bis dahin Jekaterinograd hieß, in Marx-Stadt umbenannt. Als Pjotr Schagi, Chef des lokalen Parteikomitees, nach Moskau fuhr, um Lenin darüber ins Bild zu setzen, soll dieser gesagt haben: „Erweist euch des Namens als würdig.“ Nachdem Hitlerdeutschland 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, wurde das deutsche Wort „Stadt“ getilgt, und die Kommune hieß fortan nur noch Marx. Was er von diesem Ortsnamen halte, frage ich den Taxifahrer. „Ich habe nichts dagegen“, antwortet der etwa 45 bis 50 Jahre alte Chauffeur. „Und der gescheiterte Sozialismus?“, hake ich nach. „Vielleicht hat man Marx nur falsch verstanden“, lautet die diplomatische Antwort.Das heutige Marx kann keine Prunkbauten vorweisen wie Moskau oder St. Petersburg, doch zeugen alte Kaufmannshäuser aus rotem Klinker von einigem Wohlstand. Reich scheinen die Menschen nicht zu sein, es gibt kleine Fabriken für Baustoffe, Dieselmotoren und Sonnenblumenöl. „Viele hier fahren zum Geldverdienen nach Moskau oder in den Norden, wo Öl und Gas gefördert werden“, meint der Taxifahrer.Die frühen Deutschen in diesem Gebiet bauten einst Kirchen, evangelische vorzugsweise, die inzwischen häufig als Schulen oder für Büros genutzt werden. Ein im 19. Jahrhundert entstandenes Gotteshaus war zu Sowjetzeiten Kulturclub der Firma „Kommunist“, die Dieselmotoren für U-Boote fabrizierte. 1995 fand in dieser Kirche mitten in Marx – sie fasst gut 1.000 Menschen – der erste Gottesdienst seit 1941 statt. 2016 dann wurde der 1950 abgerissene Kirchturm wieder aufgebaut, mit finanzieller Unterstützung von deutschen Gemeinden und einem russlanddeutschen Geschäftsmann.Die Gemeinde habe jetzt 50 Mitglieder, erklärt mir Pastor Jakob Rüb, den ich nach seinem Gottesdienst anspreche. Er sei seit 2019 Seelsorger in Marx, seine Eltern stammten aus der ehemaligen Wolgarepublik und seien im September 1941 nach Sibirien deportiert worden. „Mein Vater war damals elf, meine Mutter sechs, erst 1976 zogen wir zurück nach Marx, bis 1989 die gesamte Familie nach Deutschland auswanderte.“ Derzeit würden dort drei seiner Kinder leben. War es für ihn schwer, sich wieder von Deutschland zu verabschieden? „Ich bin der Knecht Gottes und bereit, in seinem Weinberg zu arbeiten. Für meine Frau ist das schon nicht einfach gewesen, die Kinder zurückzulassen.“Fortgekarrt in GüterwaggonsEtwa 600.000 Menschen lebten 1941 in der Autonomen Wolgarepublik, 60 Prozent davon Deutsche, 25 Prozent Russen, vorwiegend Landwirte, doch gab es auch eine Fabrik für Landmaschinen, die in den 1920ern den Kleintraktor „Karlik“ (Zwerg) in Serie produzierte. Ein Exemplar steht heute als Denkmal vor der Fabrik „Wolgodiselapparat“. Als am 28. August 1941 die Republik der Wolgadeutschen aufgelöst wurde, war die Angst schuld, Hitler könnte unter ihnen Sympathisanten finden. NKWD-Einheiten dirigierten eine Umsiedlung, die den Betroffenen ein bis drei Tage dafür ließ, Habseligkeiten zusammenzupacken, bevor sie in Güterwaggons mit je 40 Personen verfrachtet wurden. Die Fahrt in entlegene Gebiete Kasachstans und Sibiriens dauerte viele Tage. Die Notdurft musste irgendwie und irgendwo zwischen den Gepäckstücken verrichtet werden. Gut 700 Menschen, vor allem Kinder, sollen bei diesem erzwungenen Exodus gestorben sein. „Um uns kümmerte sich niemand“, erinnert sich Jelisaweta Jemeljanowna. „Man interessierte sich einfach nicht dafür, wie wir uns ernähren, ob wir uns ernähren und wie wir die Waggons heizen. Unterwegs haben wir Holz organisiert und Kleidung gegen Lebensmittel getauscht. Als es nichts mehr zum Tauschen gab, hungerten wir.“Weil Millionen Männer an der Front kämpften, herrschte ein extremer Mangel an Arbeitskräften. So wurden Hunderttausende der umgesiedelten Wolgadeutschen in Arbeitslagern kaserniert, um in Panzer- und Munitionsfabriken, beim Bau von Wasserkraftwerken, in Stahl- und Aluminiumhütten oder beim Holzfällen eingesetzt zu werden. Sie nannten sich „Trudowaja Armija“ (Arbeitsarmee), um trotz Verbannung anzuzeigen, dass sie dazugehörten. Man wollte Teil des Widerstands gegen den deutschen Einmarsch sein und träumte davon, nach dem Sieg als vollwertiger Bürger die Heimat wiederzusehen. Jelisaweta Jemeljanowa kam seinerzeit ins Altai-Gebiet und wurde dort als Forstarbeiterin eingesetzt. „Trotz der schweren Arbeit gab es nur Suppe“, erinnert sie sich. „Im Sommer waren das Brennnesseln in heißem Wasser, ganz selten waren es Erbsen. Dass der Krieg gewonnen war, erfuhren wir, weil die doppelte Portion verteilt wurde.“ Allerdings ging es einer Mehrheit in der Sowjetunion während jener Jahre kaum besser.1946 wurden die Lager aufgelöst, nur durften die zwangsumgesiedelten Deutschen ihre Verbannungsorte zunächst nicht verlassen. Erst 1955 setzte eine Liberalisierung ein, erhielten Wolgadeutsche wieder einen sowjetischen Pass. Doch erst am 3. November 1972 entschied der Oberste Sowjet, dass es den Deportierten erlaubt war, wieder in ihre Heimatorte zurückzukehren, auch eine Folge der Entspannungspolitik zwischen Bonn und Moskau. Gegenwärtig leben in Russland noch 400.000 Deutsche, in der Bundesrepublik indes über 2,5 Millionen Russlanddeutsche.Ein einstöckiges Gebäude aus Klinkern, das bis zur Oktoberrevolution dem Handelshaus „Karl und Söhne“ gehörte, beherbergt das Heimatmuseum von Marx, das an den Alltag der Wolgadeutschen vor der Umsiedlung erinnert. Man sieht Betten und Kommoden im klassizistischen Stil, schwarze Kleider und ein in Rot besticktes Ziertuch, auf dem steht: „Arbeit ist des Lebens Zierde“. In einem Schaukasten liegt das Dekret des Obersten Sowjets zur Deportation, vom 28. August 1941. Zitat: „Nach zuverlässigen Meldungen“ gebe es in der deutschen Bevölkerung an der Wolga „Tausende und Zehntausende Diversanten und Spione, die auf Befehl aus Deutschland Explosionen auslösen sollen“. Über die Diversanten sei den Sowjetorganen nichts mitgeteilt worden. „Folglich deckt die Bevölkerung die Feinde der sowjetischen Macht.“ Unmittelbarer Anlass für die Deportation war womöglich die Meldung an Stalin von der Südfront vom 4. August 1941, am Dnjestr, wo es Dörfer mit kompakter deutscher Bevölkerung gebe, sei die Wehrmacht „mit Brot und Salz“ empfangen worden. Stalin schrieb mit Rotstift auf das Blatt: „Fortjagen muss man sie!“33.000 Deutsche sollen sich nach den Recherchen des Historikers Nikolai Bugaj in den ersten Tagen nach dem deutschen Überfall bei den Wehrämtern gemeldet haben, größtenteils aus der Wolgaregion. Ab September 1941 wurden sie aus der Roten Armee entlassen und mussten in Baubrigaden dienen. Doch gab es viele junge Deutsche, die unbedingt kämpfen wollten und sich unter russischen, aserbaidschanischen und ukrainischen Namen für die Armee registrieren ließen. Einer war Woldemar Wenzel, der sich mit 17 als „Wladimir Wenzow“ zur Front meldete. Nach kurzer Ausbildung wurde er Kommandeur einer Maschinengewehr-Einheit. Am 25. September 1943 starb Wenzel, nachdem sein Verband in der Ukraine den Dnjepr überquert hatte. Für seinen Mut wurde er posthum als Held der Sowjetunion ausgezeichnet, einer von zwölf Deutschen, denen dieser Titel während des Zweiten Weltkrieges verliehen wurde.
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