Immer wieder lassen sich Schwärme von Wasservögeln auf dem See nieder. Ruhig schaukeln sie vor sich hin und starten dann plötzlich durch wie eine Kunstfliegerstaffel. Eins, zwei, drei, vier steigen sie auf und ziehen in weiter Formation über den See. Aber nicht nur wegen der Vogelschwärme wechselt das fast 32.000 Quadratkilometer große Gewässer ständig sein Gesicht. Mal ist die Oberfläche von Wellen zerfurcht, mal spiegeln sich die Farbe der Wolken im Wasser und hinterlassen einen rötlichen Schimmer. Zieht Regen auf, wechselt alles in wenigen Augenblicken von Dunkelblau in ein melancholisches Dunkelgrau.
Die Schönheit des Baikalsees lasse ihn nie los, meint Pjotr, der mich im Taxi vom Hotel zum Bahnhof der Kleinstadt Sljudjanka fährt. 45 Jahre ist er alt, er muss sich als Fahrer durchschlagen. Seinen Job in einem Marmor-Steinbruch hat er verloren. Dort wurde früher in drei Schichten gearbeitet, jetzt nur noch in einer. Daran, sagt Pjotr, sei die wirtschaftliche Flaute schuld, aber das könne sich auch wieder ändern.
Wasser für China
Sljudjanka mit seinen gut 18.000 Einwohnern wäre wohl für immer ein Provinznest geblieben, hätte nicht zu Anfang des 20. Jahrhunderts die russische Eisenbahnverwaltung einen prächtigen Bahnhof aus rosa und weißem Marmor erbauen lassen. Bis heute fristet die Station alles andere als ein Schattendasein. Auf dem Bahnsteig sammeln sich chinesische Touristen für die Fahrt zum See. Auf den Gleisen nebenan stehen Güterzüge mit Tankwagen für Öl, mit Waggons für Schienen, Holz und Kohle. Hier werden die Reichtümer Sibiriens bewegt, Richtung Peking, Moskau oder Wladiwostok. Jeder zweite Bewohner von Sljudjanka soll bei der Eisenbahn arbeiten.
Olga, die mich durch die Stadt begleitet und sich mit Buddhismus auskennt, hat mir aufgetragen, alles, was mich belastet, auf einen Zettel zu schrieben. Am nächsten Morgen soll ich früh aufstehen und mich mit ihr hinter der Banja treffen. Dort öffnet Olga die Klappe zum Ofen und gibt mir ein Zeichen, den Zettel auf die Asche zu legen. Als das geschehen ist, zündet sie ihn an und sagt mit beschwörender Stimme, dass wir nun alles Negative hinter uns gelassen hätten, um ganz auf die Gegend und die Menschen rings um den Baikalsee konzentriert zu sein. Zum Beispiel auf Juri Karpow in seinem Holzhaus mit dem selbst angelegten Botanischen Garten rundherum. Nach 30 Jahren bei der Transsibirischen Eisenbahn beschäftigt sich der Pensionär neben seiner Blumenzucht mit dem Sammeln von Schmetterlingen und der Pflege von Vögeln, die von Autos angefahren wurden wie Sonja. Die Eule, die sich einen Flügel gebrochen hat, scheint mit Juri bestens vertraut zu sein, lässt sich streicheln und schaut den Besucher mit ihren gelb-schwarzen Augen ohne eine Regung an.
Das Wetter ist wechselhaft an diesem Vormittag, es fegt ein starker Wind, so dass die geplante Bootstour über den Baikal zunächst verschoben wird. Schließlich ist Schenja, ein junger Mann mit weißer Kapitänsmütze, bereit, den Motor anzuwerfen, und sein kleines Aluminiumboot, das noch aus Sowjetzeiten stammt, schiebt eine Bugwelle vor sich her. Ich entdecke einen weißen Berggipfel, über dem Rauchwolken aufsteigen. „Das ist ein Marmorbruch, in dem gerade gesprengt worden ist“, erklärt Schenja. Auf dem See könne es bei Sturm gefährlich werden. Jedes Jahr kämen einige Fischer ums Leben. „Das sind zumeist Leute, die ihre Netze illegal auswerfen und deshalb versuchen, sie bei jedem Wetter zu leeren. Ihre leichten Boote und die schweren Netze, das endet bei stürmischem Wetter oft mit einem Unglück.“ Was man im Baikal fangen könne, frage ich. Schenja nennt den Omul, das sei einer der wichtigsten Fische im See. Gut einen halben Meter lang, habe der Omul feines weißes Fleisch, sei eine Delikatesse und nicht billig. Leider gehe der Bestand zurück, meint Larissa, die in ihrem Haus, nicht weit vom Seeufer, eine Omul-Räucherei betreibt. Das bereite ihr auch deswegen Sorgen, weil der Wasserspiegel in den vergangenen zwei bis drei Jahren um einen ganzen Meter gefallen sei, woran früher unbekannte lange Dürreperioden schuld seien. Ungeachtet dessen speichert der Baikal auf einer Länge von 636 Kilometern ein Volumen von 23,6 Billionen Kubikmetern Wasser, was einem Fünftel der weltweiten Trinkwasservorräte entspricht und chinesische Unternehmer veranlasst hat, mit diesem Reservoir für die Einfuhr von Trinkwasser in die Volksrepublik zu kalkulieren.
Fürsorgliche Menschen
Ich frage Juri Karpow, den Schmetterlingssammler, nach dem ökologischen Zustand des Baikalsees. Der habe sich entspannt, seit 2006 eine Papierfabrik geschlossen wurde, meint er. „Zwar gibt es noch immer große Behälter mit Abfällen, doch denkt die Gebietsregierung derzeit darüber nach, wie man die entsorgen und das Territorium reinigen kann. Fest steht, es werden aus dieser Fabrik keine Abwässer mehr in den See geleitet, folglich erholt sich die Tierwelt und wir werden attraktiver für Touristen.“ Für die Hoteliers Maxim Udobkin und Nikolaj Aleksejew sind das keine verlockenden Aussichten. Sie fürchten, von Chinas Tourismusindustrie überrollt zu werden, die große Summen in dieser Gegend investieren wolle. Wenn man das gestatte, werde der russische Fremdenverkehr mit seinen kleinen Firmen nicht überleben.
Nach 30 Minuten erreiche ich mit Schenjas Boot das andere Ufer. Hier ragen die Berge steil aus dem See, und es gibt keine Straßen, nur eine verwaiste Bahnstrecke, auf der gelegentlich gecharterte Züge für Touristen verkehren. Die Strecke führt durch zahlreiche Tunnel, deren Einfahrten mit geschwungenen Bögen verziert sind, errichtet von Ingenieuren aus Italien noch vor dem Ersten Weltkrieg.
Weiter geht es zum Iwolginski Dazan, einem Wallfahrtsort in der Nähe von Ulan-Ude, der Hauptstadt der Teilrepublik Burjatien. Der Dazan gilt seit 1945 als das religiöse Zentrum des Buddhismus beziehungs-weise Lamaismus, der in Russland neben dem Christentum, Judentum und Islam zu den vier anerkannten Staatsreligionen gehört, aber ebenso daran erinnert, dass es in den 30er Jahren einer Phase der Illegalität gab. Doch wurde auf einen Beschluss der örtlichen Volkskommissare am 2. Mai 1945 der Bau von Tempeln in Burjatien wieder erlaubt und damit der Tradition entsprochen. Schon im 17. Jahrhundert brachten Priester den Buddhismus von Tibet über die Mongolei in die Region um den Baikal.
Gegen acht Uhr morgens komme ich am Tempelbezirk an. Noch liegt Stille über dem weitläufigen Areal. Drei Mal müssen Besucher um das Gelände laufen und dabei die mit tibetischen Schriftzeichen bemalten Gebetstrommeln berühren, um sie zu drehen. Nur dann können die religiösen Sprüche im Innern, so die Vorstellung der Gläubigen, ihre missionierende Kraft entfalten.
Inzwischen wandeln buddhistische Mönche in ihren rostroten Gewändern über das Gelände. Gegen zehn öffnet der Tempel, in dem der noch gut erhaltene Körper des Lama Itigelow zu sehen ist. Der hohe buddhistische Gelehrte ließ sich 1927 im Alter von 75 Jahren in einem großen Sarkophag – angeblich in tiefer Meditation versunken – beerdigen. 2002 öffnete man den Totenschrein und fand den leicht mumifizierten Körper eines gebeugt sitzenden Geistlichen, als seien die Jahrzehnte fast spurlos an ihm vorübergegangen. Das Phänomen ist Wissenschaftlern bis heute ein Rätsel, so dass sich im Dazan die Legende hält, der Lama sei gar nicht tot, sondern studiere und meditiere noch immer.
Es ist schon spät, als ich nach dieser Reise in die Vergangenheit den berühmten Kurort Arschan erreichen, der am Fuß einer Bergkette liegt. In einem Souvenir-Laden komme ich mit einem Verkäufer ins Gespräch. Er beschwert sich über russische Bevormundung und meint, es sei besser, würde sich Burjatien von Russland lösen und wieder mit der Mongolei vereinigt. Von der Lebensweise und Kultur her, der Religion sowieso, seien sich Burjaten und Mongolen sehr ähnlich. Leider hätten die Russen immer noch Angst vor Dschingis Khan, der im 13. Jahrhundert mit seinen Truppen bis ans Kaspische Meer vorgestoßen und ein großer Eroberer gewesen sei.
Eine ganz andere Sicht bekomme ich am Tag darauf im Zentrum von Arschan aus dem Mund von Aldar Petrow, einem pensionierten Militärarwzt und Burjaten, zu hören. Er zitiert den russischen Kosaken-General Jermak, der im 16. Jahrhundert Sibirien für das russische Imperium eroberte. Der habe gesagt: „Ich komme zu euch für immer, aber in Frieden.“ Natürlich habe es über die Jahrhunderte hinweg immer wieder kleine Scharmützel mit der russischen Armee gegeben, aber sich heute von Russland abzuspalten, das könne niemand ernsthaft wollen. Natürlich gäbe es in Burjatien Leute, die es zur Mongolei dränge, sogar manchen Neofaschisten, aber das sei eine Minderheit. Um zu zeigen, wo er steht, sagt Petrow: „Mein Vater kämpfte als Soldat der Roten Armee gegen die Nazis.“ Völlig entspannt ist das Verhältnis zwischen Russen und Burjaten aber nicht, wofür nicht zuletzt Wladimir Schirinowski mit seiner nationalistischen Liberaldemokratischen Partei verantwortlich ist. Er will Burjatien den Titel der Republik nehmen und Russland wie zu Zarenzeiten wieder in Gubernien aufteilen.
Im Park des Sanatoriums von Arschan stoße ich auf einen Gedenkort für die Getöteten des Zweiten Weltkrieges. Die Hälfte der auf den Tafeln abgebildeten Männer tragen asiatische Gesichtszüge. Und das Bronzedenkmal selbst – ein junger burjatischer Soldat der Luftlandetruppen, der einen Kranz niederlegt – erinnert daran, dass nicht nur Russen, Weißrussen und Ukrainer gegen Hitlers Wehrmacht kämpften. Die Burjaten seien fürsorgliche Menschen, sagt mir eine Händlerin, die auf dem Markt von Arschan Käse und Milch verkauft. „Wenn wir beten, beten wir nicht nur für uns, sondern für alle – für die Familie, unsere Heimat, für Burjatien und Russland.“ Sie sei stolz darauf, dass Wladimir Putin im Jahr 2013 Burjatien besucht habe.
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