Dieser 7. Oktober, ein Samstag und zugleich der Geburtstag von Präsident Wladimir Putin, wird zu einem schwarzen Tag für Russland. Am Nachmittag, gegen 16.20 Uhr, findet eine Nachbarin die Leiche der Journalistin Anna Politkowskaja im Treppenaufgang ihres Wohnhauses. Noch am gleichen Abend versammeln sich Freunde und Bekannte vor der Lesnaja Uliza im Zentrum Moskaus, um Blumen zu bringen und Abschied zu nehmen. Alle sind schockiert, wollen nicht glauben, was passiert ist, viele weinen.
Über Russland liegt ein Schatten marodierender, wahrscheinlich politischer Kriminalität - erst Mitte September hat ein bislang unbekannter Auftragsmörder den Vizepräsidenten der Zentralbank, Andrej Koslow, auf einem abgelegenen Moskauer Parkplatz erschossen (s. Freitag 39/06). Möglicherweise ein gezielter Racheakt, weil der Banker zahlreiche Kreditinstitute schließen oder mit Sanktionen belegen ließ, die in Geldwäsche verwickelt waren.
Anna Politkowskaja ist am Nachmittag gerade vom Einkauf zurück, als der Mörder auf sie wartet. In ihrem Lada stehen noch Einkaufstüten, die sie nach oben in ihre Wohnung tragen will. Als sie aus dem Lift tritt, fallen Schüsse - sie wird in die Brust und in den Kopf getroffen.
Nach Meinung des ermittelnden Staatsanwalts kann der Mord mit der publizistischen Tätigkeit von Politkowskaja zusammenhängen, doch will er gleichermaßen nicht ausschließen - und auch das ist eine Parallele zum "Vorgang Koslow" -, dass hier ein Fall von Alltagskriminalität in Betracht kommt. Am Ort des Verbrechens finden die Ermittler eine Makarow-Pistole und vier Patronenhülsen. Und die am Hauseingang installierte Videokamera hat zur Tatzeit einen Mann mit Basecap, dunklem Hemd und dunkler Hose aufgezeichnet, dessen Gesicht weder maskiert noch sonst irgendwie verdeckt ist. Möglicherweise, so einer der ermittelnden Kriminalisten gegenüber der Nachrichtenagentur Ria Nowosti, sei der Mörder von seinen Auftraggebern bereits liquidiert worden.
Der Ex-Ehemann der Ermordeten, der renommierte Fernsehjournalist Alexander Politkowski, meint gegenüber dem Fernsehkanal NTW, er rechne nicht mit einer schnellen Aufklärung des Verbrechens. "Es besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit einem weiteren Opfer unserer beruflichen Tätigkeit zu tun haben. Anna lebte wie auf einem Vulkan. Sie war ein Mensch mit Prinzipien, eine ehrliche Journalistin - wahrscheinlich war sie aus einer anderen Zeit."
Anna Politkowskaja hatte seit 1999 vorzugsweise für die Moskauer Nowaja Gaseta über den Krieg in Tschetschenien berichtet. Dmitri Muratow, Chefredakteur des zweimal im Monat erscheinenden Blattes, informiert - ebenfalls gegenüber dem Kanal NTW - darüber, für die Montagsausgabe habe man einen Artikel von Politkowskaja über Folter in Tschetschenien bringen wollen. "Sie hatte Fotografien, die zeigen, was dort geschieht. Wir werden Teile dieses Materials auf jeden Fall veröffentlichen." Michail Gorbatschow, seit einigen Monaten Miteigentümer der Zeitung, spricht denn auch von einem "wilden Verbrechen" gegen eine "seriöse Journalistin und mutige Frau". Die Nowaja Gaseta werde es sich nicht nehmen lassen, in diesem Mordfall eigenständig zu recherchieren.
Anna Politkowskaja soll während der vergangenen Monate angeblich keinerlei Drohungen mehr erhalten haben. Früher war sie des öfteren bedrängt und traktiert worden, was 2001 sogar dazu führte, dass sie für ein halbes Jahr in Wien Zuflucht suchte. Seinerzeit wurde sie besonders von einem Polizisten attackiert, dem sie nachgewiesen hatte, an Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien beteiligt gewesen zu sein.
Die 48jährige Mutter zweiter Kinder war mit ganzer Seele Journalistin, sie zog es vor, auch in gefährlichen Situationen ohne Leibwächter zu arbeiten. Gegenüber dem Autor dieser Zeilen sagte sie 2003 in einem Interview: "Meine Familie sagt immer, ich solle nicht mehr fahren. Aber ich kann nicht aufhören. Ich bekomme täglich Briefe aus Tschetschenien. Und in jedem gibt es eine Bitte - jeden Tag ein neues Problem. Ich kann den Leuten nicht sagen, ich höre auf, ich bin müde."
Politkowskaja ließ die Opfer von Bürgerkrieg und Folter selbst zu Wort zu kommen und änderte daran selbst dann nichts, als man ihr vorwarf, sie stehe auf der falschen, auf der Seite der tschetschenischen Separatisten. Niemals konnte ihr jemand Fälschungen oder Überspitzungen nachweisen. Sie vermied es, aus der Position einer distanzierten Beobachterin zu schreiben, manchmal verfiel sie dadurch in eine besonders schroffe und schonungslose Art der Berichterstattung. Doch was sie erleben musste, hatte sie nur mit Härte und Überwindung durchstehen können - den Tod immer vor Augen. Anfang September 2004 wäre sie beinahe ums Leben gekommen, als ihr jemand im Flugzeug auf dem Weg nach Beslan - sie wollte bei der Geiselnahme in der dortigen Schule Nr. 1 vermitteln - vergifteten Tee einschenkte. Schwer angeschlagen wurde sie in einem Krankenhaus behandelt, hatte einen Schutzengel und überlebte wie durch ein Wunder. Am Sonnabend vor einer Woche aber, in dem dunklen Hausflur, stand sie ihrem Mörder allein und schutzlos gegenüber.
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