Der Sieg der Kreml-Parteien war überwältigend. Für Millionen Menschen hätte es Grund zum Feiern gegeben. Doch niemand ging auf die Straße. Nur ein kleines Häuflein von Jung-Aktivisten der Kreml-Partei "Geeintes Russland" sang und tanzte vor der Moskauer Parteizentrale im Schein von Kamera-Lampen. Weil nirgendwo Stimmung aufkam, streiften die Fernsehreporter durch Partei-Büros und Abgeordneten-Zimmer. Doch was die Kameras einfingen, waren nur die bekannten Gesichter, dicke Bäuche und Zigarettenqualm.
Das Volk hatte am Sonntag offenbar keinen Grund zu Feiern. Für viele war die Wahl eine Farce. Sie blieben zuhause, und die Wahlbeteiligung sackte von 62 Prozent (1999) auf 52. Knapp fünf Prozent stimmten landesweit für den "Kandidaten gegen alle", im aufgeklärten Moskau waren es sogar 6,4 Prozent.
Für die Kreml-Wahltechnologen war die Abstimmung ein voller Erfolg. Sie organisierten Wladimir Putin in der Duma eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Der Präsident kann nun die Verfassung ändern und sich für 2008 bei Bedarf eine dritte Amtszeit genehmigen lassen. Nach westlichen Maßstäben kann solch ein System nicht stabil sein, weil es in der Gesellschaft keinen streitbaren Dialog gibt. In Russland mit seiner autoritären Tradition mag so ein Modell funktionieren. Ob es aber im Zeitalter des Postindustrialismus die Grundlage für eine moderne Gesellschaft ist, muss man bezweifeln.
Bei näherer Betrachtung relativiert sich der Sieg der Kreml-Parteien. Die beiden Vorgänger- Parteien von "Geeintes Russland", "Einheit" und "Vaterland" bekamen bei der letzten Duma-Wahl 23 und 13 Prozent. Das entspricht fast exakt dem Wahlergebnis von "Geeintes Russland" am 7. Dezember. Das jetzige Ergebnis der Kommunisten und des KP-Dissidenten Glasew entspricht in der Summe etwa dem Ergebnis der KP von 1999.
Bei der Wahl am Sonntag wurde nicht nur die Mitte gestärkt, sondern auch nationalistische Kräfte. Das Erfolgsrezept der Ultra-Rechten ist einfach. "Je mehr Vorortzüge explodieren, desto eher kommen wir in den Kreml," meinte Schirinowski in einer NTW-Talk-Show. Es ist offensichtlich, dass die Menschen in Russland nach Jahren von Krieg und Instabilität jetzt Ordnung und Stabilität verlangen. Umfragen zeigen, dass viele auch gegen eine Diktatur nichts einzuwenden hätten.
Die Demontage der Kommunisten und der Weg zu der Zwei-Drittel-Mehrheit führte über die Gründung neuer Parteien. 1999 begann der Reigen mit der Gründung von "Einheit" - sie ging in die Partei "Geeintes Russland" auf. Vor der diesjährigen Duma-Wahl gab es gleich mehrere Parteineugründungen: der vom KP-Dissidenten Sergej Glasew geführte Wahlblock "Rodina" (Heimat), die Partei der Wiedergeburt Russlands von Parlamentssprecher Selesnjow, die "Partei des Lebens" geführt vom Föderationsratsvorsitzendem Mironow und die "Volkspartei" vom Law-and-Order-Politiker Rajkow. Auch die neugegründete "Partei der Pensionäre", die auf Anhieb drei Prozent der Stimmen erhielt, geht auf eine Initiative des Kreml zurück.
Mit der Strategie der Neugründungen drängten die Kreml-Strategen die KP an den Rand. Die Kommunisten sackten von 24 auf 13 Prozent. Die KP, die längst ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht hat und unter ihren 18 Spitzenkandidaten fünf Millionäre platzierte, ist heute die einzige Oppositionspartei, die den Putin-Clan noch stört.
Nach der Wahl vermeldete der stellvertretende Leiter der Präsidialadministration, Wladimir Surkow, Vollzug. "Wir leben in einem neuen Russland." Das alte, auf "marxistischen Dogmen" gegründete politische System mit rechten und linken Flügeln existiere nicht mehr. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Putin und Berlusconi sich so gut verstehen. Beide Staatsführer ebneten sich ihren Weg zur Macht mit Kunstprodukten. In Moskau war es "Geeintes Russland", in Rom "Forza Italia".
Sergej Glasew zog mit der Forderung nach einer Rohstoff-Steuer in den Wahlkampf und knüpfte dabei an die Anti-Oligarchen-Stimmung an. Mit neun Prozent der Stimmen schnitt der Ökonom unerwartet gut ab. Selbst in die Hochburgen der Liberalen ist er eingedrungen. In Moskau und St. Petersburg wurde sein Wahlblock "Heimat" mit 15 beziehungsweise 14 Prozent zweitstärkste Kraft. Das Bild der neulinken Lichtgestalt wird jedoch durch die Glasew-Begleiter getrübt. Zu den "Rodina"-Spitzenkandidaten gehört General Warennikow, Mitglied des Notstandskomitees von 1991, und der Vorsitzende des Auswärtigen Duma-Ausschusses, Dmitri Rogosin, der mit EU-Vertretern verbissen um Kaliningrad und Tschetschenien stritt und russische Erde auch in Nachbarstaaten beansprucht, so beim Streit um die ukrainische Insel Tusla.
Das Wahlergebnis vom 7. Dezember erinnert an die erste Duma-Wahl 1993. Viele Bürger waren damals von Preisliberalisierung und wilder Privatisierung geschockt, blieben der Wahl fern - die Wahlbeteiligung lag damals bei 54 Prozent. Schirinowskis Liberaldemokraten wurden damals mit 23 Prozent stärkste Partei. Westliche Beobachter sahen bereits einen neuen Faschismus heraufziehen. Die Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Damals wie heute zeigt sich, dass sich das russische Wahlverhalten nicht mit westlichen Maßstäben messen lässt. Die Befindlichkeiten und Traditionen hier und dort sind einfach zu unterschiedlich. Dass die einzigen Parteien mit klar westlichem Profil - die Union der Rechten Kräfte und Jabloko - bei der Wahl am 7. Dezember unter die Fünf-Prozent-Hürde rutschten, symbolisiert, dass Russland die westlichen Demokratiekonzepte nicht angenommen hat. Während im Westen der Schutz des Privateigentums und des Individuums in der Werteskala oben stehen, gehört in Russland die Unterordnung unter die Macht und das klassenübergreifende Wir-Gefühl zu den bestimmenden Werten.
Natürlich ist Putin nicht allmächtig. Das vom Kreml geförderte Auffangbecken für KP-Wähler "Heimat" lässt sich nicht hundertprozentig lenken. Es ist durchaus möglich, dass Sergej Glasew im März zu den Präsidentschaftswahlen antritt und Putin in eine zweite Wahlrunde zwingt. Völlig wasserdicht ist auch die "gelenkte Demokratie" nicht.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.