Der 22. April, ein Samstagnachmittag in der Moskauer Innenstadt. Auf dem Bahnsteig der Metro-Station Puschkinskaja herrscht wie immer um diese Zeit großes Gedränge. Hunderte sind auf den Rolltreppen des weitläufigen Tunnelsystems unterwegs. Ein Metrozug aus dem Südosten fährt ein, eine Gruppe Skinheads steigt aus, kahl geschorene Köpfe, schwarze Jacken, Springerstiefel. Nicht weit davon steht eine Gruppe junger Armenier. Urplötzlich beginnen die Skinheads, auf die Kaukasier einzuschlagen - der 17-jährige Wigen Abramjanz wird mit drei Messerstichen getötet. Der junge Armenier studierte im ersten Semester an der Moskauer Verwaltungshochschule. Ich kam zufällig vorbei und sah nur noch die bläulich blassen Hände des Opfers, die nicht von einem weißen Leinentuch verdeckt wurden. Polizisten hatten den Tatort abgesperrt, Schaulustige sahen verängstigt zu.
Der Schuldige - Schüler der Moskauer Mittelschule Nr. 674 - wird erstaunlich schnell gefasst, einen ausländerfeindlichen Hintergrund will die Staatsanwaltschaft allerdings nicht erkennen: Der Armenier habe die Freundin des Täters beleidigt - nicht zum ersten Mal stufen die Ermittlungsbehörden ein offenkundig fremdenfeindliches Verbrechen zum "jugendlichen Rowdytum" herab.
Der 7. April, ein Freitag, morgens sechs Uhr. Auf der Jegorowa-Straße, im Stadtzentrum von St. Petersburg, ist eine Gruppe ausländischer Studenten, die soeben den Nachtklub Apollo verlassen haben, auf dem Nachhauseweg. Plötzlich taucht ein junger Mann mit dunkler Jacke aus einem Hinterhofeingang auf und schießt mit einer Pumpgun. Lamsar Samba, ein Student aus dem Senegal, wird am Hals getroffen. Die anderen gehen zunächst weiter, weil sie gar nicht bemerkt haben, dass einer fehlt. Samba stirbt unmittelbar nach dem Überfall. Als die Polizei die Tatwaffe findet, sind auf dem Schaft ein Hakenkreuz und die Worte eingraviert: "Waffe eines Skinheads" - "Tod den Negern". Vier Tage später wird der 28-jährige Elektriker Aleksej Kutarjow, Sohn eines Milizionärs, als Tatverdächtiger festgenommen.
Sergej Dorenko, Moderator bei Radio Echo Moskwy, stellt seinen Hörern danach die Frage "War das eine Kugel gegen mich oder von mir?" 1.230 Hörer nehmen an der Umfrage teil, und das Echo ist aufschlussreich - 87 Prozent empfinden den Angriff auf den Afrikaner als Angriff auf sich selbst, 13 Prozent erklären sich mit dem Schützen solidarisch. Die Hörerschaft des Senders gilt als aufgeklärt und gebildet, aber man geht nicht fehl in der Annahme, dass etwa 13 Prozent der Wähler in Russland mit rechtsradikalen Positionen sympathisieren.
Ohne Tadschiken gäbe es die Boomtown Moskau nicht
Symptomatisch für die Reaktion der Behörden ist auch der Fall von Chursched Sultonowa, einem neunjährigen tadschikischen Mädchen, das im Februar 2004 im Petersburger Stadtzentrum erstochen wurde. Im Prozess, den es erst vor wenigen Wochen gegen den mutmaßlichen Täter, einen zur Tatzeit 14-jährigen Jungen, gab, konnten sich die Geschworenen nicht zu einem Schuldspruch durchringen - Begründung: ein bedauerlicher Fall von "Rowdytum". Die Staatsanwaltschaft will in Berufung gehen.
Wer in Russlands Städten nachts Afrikaner, Chinesen, Tadschiken und Aserbaidschaner überfällt, ist in der Regel nicht älter als 30 - oft unter 20. Die Skinhead-Szene - die laut Moskauer Menschenrechtsbüro etwa 50.000 Anhänger zählt - formiert sich vorrangig im Umfeld von Fußball-Fanclubs. Am 6. November 2005 beim Spiel des Armeesportclubs ZSKA gegen Dynamo schrieen Fans beider Vereine brüderlich vereint: "Moskwa bes tschurok!" - "Moskauer ohne Kaukasier!" Hochburgen der Glatzen sind Petersburg, Moskau und die Millionenstadt Woronesch. Wie ein Bericht von Amnesty International festhält, wurden 2004 in 26 Regionen Russlands Überfälle mit rassistischem Hintergrund registriert - ein Jahr später waren es 36 Regionen. Und das Moskauer Menschenrechtsbüro hält fest: Die Zahl der Morde aus fremdenfeindlichen Motiven (2004 waren es 40, 2005 noch 25) sei zwar rückläufig, die der tätlichen Angriffe bleibe jedoch konstant hoch (2005: 366).
Die Bewegung gegen illegale Migration (DPNI), die sich - wie sie immer wieder zu verstehen gibt - an aufgeklärte Bürger wendet, erklärte auf ihrer Homepage nach dem Mord an zwei Usbeken, es bestehe "Anlass zur Freude". Im Vorjahr zeichnete die Organisation eine Russin aus, die einen Armenier umgebracht hatte, der sie vergewaltigen wollte, und startete zugleich eine Kampagne gegen eine Moskauer Mittelschule, an der verstärkt Georgisch unterrichtet wurde. Die jugendlichen Gewalttäter - sie kommen nicht nur aus armen, zerrütteten Familien, auch aus besseren Elternhäusern - fühlen sich sicher, sie wissen, um die heimliche Sympathie eines Teils der Gesellschaft.
Auf die vier Millionen Gastarbeiter, die größtenteils illegal aus den Nachbarrepubliken nach Russland gekommen sind, wurde bisher nicht mit gezielten Integrationsangeboten reagiert, was freilich Unternehmern nicht unlieb war, denn Gastarbeiter ohne Rechtsstatus bleiben billig und sind jederzeit kündbar. Viele Bürger in Moskau und St. Petersburg empfinden die Einwanderer aus dem Kaukasus und aus Mittelasien ohnehin als permanente Störung, die eine bereits überlastete urbane Infrastruktur an den Rand des Kollaps bringt. Dabei sind es vorzugsweise Tadschiken, die in Russlands Kapitale die Straßen sanieren und ein Hochhaus nach dem anderen hochziehen. Ohne sie gäbe es die Boomtown Moskau nicht.
Meinungsforscher des Lewada-Zentrums ermittelten, 16 Prozent in der Föderation würden sich hinter den Slogan "Russland den Russen" stellen, weitere 37 Prozent unterstützten ihn unter dem Vorbehalt, ein solches Verlangen müsse "in vernünftigem Rahmen" umgesetzt werden. 23 Prozent sind dagegen, weil das "echter Faschismus" sei. Auf der Liste der verhassten Nationalitäten stehen Tschetschenen und Zigeuner ganz oben, gefolgt von Aserbaidschanern und Arabern. Am unteren Ende der Skala rangieren Nordamerikaner, gefolgt von Deutschen und Japanern.
Rechtsradikale werden lauter
Natürlich verträgt sich rechtsradikale Gewalt nicht mit einer von Wladimir Putin anvisierten neuen Migrationspolitik, doch ziehen die Sicherheitsbehörden daraus kaum Konsequenzen. Jährlich nimmt Russlands Bevölkerung um 700.000 Menschen ab, so dass dem Kreml längst klar sein dürfte: Ohne Einwanderer aus den einstigen Sowjetrepubliken wird die vom Präsidenten in Aussicht gestellte Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts kaum erreichbar sein. Die Migrationsbehörde hat bereits erklärt, sie wolle eine Million illegale Gastarbeiter "legalisieren", während Putin in seinem "Bericht zur Lage der Nation" Anfang Mai für die Anwerbung von "ausgebildeten und gesetzestreuen Ausländern" plädierte. Zur rechtsradikalen Gewalt indes verlor er kein Wort. Vermutlich fehlt Russlands Führung ein Programm, um der Herausforderung gerecht zu werden. Zuweilen demonstrieren Mitglieder der Kreml treuen Partei Einiges Russland gegen rassistische Morde, obwohl oder weil die Politiker durch Sprachlosigkeit (auch die russisch-orthodoxe Kirche schweigt zu diesem Thema) auffallen oder in nebulösen Formeln die russische Nation beschwören.
Ein paar nicht-slawische Gesichter als Fernsehmoderatoren, das ist alles, was an bekundeter Toleranz zu haben ist. Manche Medienmacher träumen - weil ihnen nichts Besseres einfällt - wieder von der zu Sowjetzeiten gepflegten Vielvölker-Propaganda. Doch je mehr die politische Klasse verstummt, desto lauter werden die Rechtsradikalen. Als Russland am 4. November 2005 erstmals den Feiertag der "Nationalen Einheit" beging, zeigten sich in Moskau nicht nur Anhänger der Kreml-Partei Einiges Russland, sondern auch der gesammelte braune Abschaum auf der Straße - 3.000 Skinheads zogen mit erhobenem rechten Arm durch die Moskauer Innenstadt, um "Russland den Russen" zu brüllen. Da die Behörden nicht eingriffen, wurde das offenbar nicht als Straftatbestand empfunden. Nach einer Umfrage der Demoskopen des Instituts WZIOM lehnen 52 Prozent der Russen derartige Aufmärsche ab, ein Drittel der Befragten kann daran nichts Anstößiges erkennen. Um so mehr war der "rechte Marsch" vom 4. November für die Moskauer Antifaschisten Anlass zum Handeln. Am 18. Dezember versammelten sich 1.500 auf dem Puschkin-Platz, die größte Aktion dieser Art seit 15 Jahren, und verlangten, durch entschiedenere Aufklärung wenigstens zu versuchen, dass größere Teile der Bevölkerung erreicht werden.
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