Auch Russland hat seinen "Anti-Terror-Krieg" im Kaukasus, und der dauert inzwischen fast viereinhalb Jahre. Von allen militärischen Risiken auch für die innere Sicherheit des Landes abgesehen - man denke an das jüngste Selbstmordattentat in der Moskauer Metro -, ist der Einfluss des Tschetschenien-Konfliktes auf die Mitte der neunziger Jahre begonnene Militärreform nicht zu übersehen. Nach Auffassung von Verteidigungsminister Iwanow sollte sich Russland künftig auf begrenzte Kampfeinsätze im "Nahen Ausland" wie auch bei globalen Operationen einstellen, bei denen flexible, modern ausgerüstete Einheiten aus Berufssoldaten gefragt sind.
Selten geraten Interna des russischen Militärapparats an die Öffentlichkeit. Umso aufmerksamer registriert die Moskauer Presse derzeit die sich häufenden Aktivitäten von Verteidigungsminister Sergej Iwanow, mit denen er die üblichen Grenzen seines Ressorts offenkundig durchbricht. Auf einer Sibirienreise besuchte er nicht nur Garnisonen, sondern auch Gouverneure aller Couleur. Und in Delhi verkündete er den Abschluss eines Waffengeschäftes, das es in sich hat: Für 1,4 Milliarden Dollar erhält Indien den Flugzeugträger Admiral Gorschkow inklusive Nachrüstung und MIG-29-Staffel. Untrügliche Indizien für die politischen Ambitionen eines Mannes, der sich vorstellen kann, 2008 Wladimir Putin im höchsten Staatsamt zu beerben. Bis dahin will der Ex-KGB-Kader aus St. Petersburg eine Mission vollendet wissen, die seiner Amtszeit als Verteidigungsminister den rechten radikalreformerischen Schneid geben soll - Iwanow gedenkt, eine Armeereform abzuschließen, die für Russlands Militär einen Paradigmenwechsel einläutet: Spätestens bis 2008 soll sich die Landesverteidigung auf ein schlagkräftiges Korps von Berufssoldaten stützen, das als operative Task Force für Krisenherde verfügbar ist. Ein Abschied von der Wehrpflicht, der nach dem Willen des Kremls behutsam erfolgen, aber unwiderruflich sein soll.
Um diesem Ziel zu dienen, muss der immer ein wenig blass wirkende Iwanow zunächst einmal verlorenes Terrain zurückerobern, und den zu Eigenmächtigkeiten neigenden Generalstab wieder ins Glied stellen. Derzeit gäbe es, so Iwanow, in der Armee eine "Doppelmacht", die höchst nachteilig sei, da Generalstabschef Anatolij Kwaschnin einfach das Format fehle, strategisch zu denken. Kwaschnin sehe alles nur durch die Brille des "Anti-Terror-Kampfes in Tschetschenien" - auf die Bedrohungen, denen sich Russland darüber hinaus ausgesetzt sehe, könne er nicht "adäquat reagieren".
General Kwaschnin hatte im Juni 1999, als der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zu Ende ging, russische Schützenpanzerwagen in den Kosovo geschickt. Mit dem "Panthersprung nach Pris?tina", von dem weder der russische Verteidigungsminister noch die NATO etwas wussten, wollte der Generalstab in Moskau einen russischen Kontroll-Sektor im Kosovo durchsetzen - und scheiterte prompt. Dieser heiklen Fehlschlag haben Kwaschnins Gegner nicht vergessen.
"Dedowschina" und Sägewerk
Der Präsident und sein Verteidigungsminister beteuern bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die Armee modernisieren und von alten Gewohnheiten befreien zu wollen, nur konterkarieren der Alltag in den Garnisonen - besonders der Krieg im Kaukasus - derartige Versprechungen gewaltig. Immer wieder stürzen über Tschetschenien Flugzeuge und Hubschrauber nicht durch feindlichen Beschuss, sondern wegen technischer Defekte ab. Nach offiziellen Angaben sind 80 Prozent der russischen Militärausrüstung veraltet oder nicht einsatzfähig. Ein paradoxer Zustand, das der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt außerstande scheint, den eigenen Streitkräften ein zeitgemäßes und zuverlässiges Equipment zu verschaffen.
In den Standorten zwischen Smolensk und Wladiwostok ist es außerdem eine traurige Praxis, dass Generäle ihre Soldaten als Hilfsarbeiter an Privat-Firmen "ausleihen", etwa als Hilfsarbeiter für den Straßen-, Häuser- oder Kirchenbau. Erst kürzlich berichtete die Moskauer Iswestija, neun Soldaten und zwei Offiziere einer bei Serpuchow im Süden Moskaus stationierten Raketeneinheit seien an ein Sägewerk in Tula ausgeliehen worden. Wie sich später herausstellte, mussten die Soldaten nachts unter menschenunwürdigen Bedingungen auf nackten Matratzen schlafen und waren halbverhungert, als der Vorgang aufflog. Das Verleihsystem diente den Kommandeuren der Einheit dazu, Holzlieferungen des Sägewerks für den Kasernenbau zu bezahlen, was sogar vertraglich geregelt war. Der Militärstaatsanwalt begnügte sich mit einer "ernsten Verwarnung". Immerhin hätten die Generäle sich nicht persönlich bereichert, so Ermittler Michail Janenko.
Weitaus folgenschwerer als diese Art profitabler Dienstverpflichtung scheint für die Armee nach wie vor die "Dedowschina" zu sein: Die inoffizielle "Herrschaft der Älteren" über die Jüngeren. Auf Betreiben der Union der Rechten Kräfte (SPS) war es im Juni zu einem aufsehenerregenden Prozess gegen den 22-jährigen Sergeanten Wladimir Schumenko gekommen. Der wurde als Angehöriger des Präsidenten-Regiments im Kreml zu zwei Jahren Strafbataillon verurteilt, weil er Alexander Fokin, einen um zwei Jahre jüngeren Wehrpflichtigen gequält und fast in den Tod getrieben hatte. Man fand den jungen Soldaten im Januar des Vorjahres mit aufgeschnittenen Puls-Adern in einer Kreml-Toilette.
Die Sprecherin des Moskauer Komitees der Soldatenmütter, Walentina Melnikowa, macht vor allem den Tschetschenienkrieg dafür verantwortlich, dass in vielen Einheiten jeder moralische Instinkt für das eigene Handeln verschwunden und die Zahl der bekannt gewordenen Misshandlungen weiterhind erschreckend hoch sei. 2003 starben allein 1.200 Soldaten an den Folgen von Quälereien und "Unfällen". Anfang 2004 erschütterte der Tod eines jungen Wehrpflichten das ganze Land, als Offiziere 119 Rekruten aus dem Moskauer Umland, die als Grenzschützer im fernöstlichen Magadan dienen sollten, auf sibirischen Flugplätzen stundenlang ohne Winterkleidung in Eiseskälte warten ließen. 70 der 119 Soldaten mussten daraufhin in Hospitäler eingeliefert werden - einer starb an Lungenentzündung. Wladimir Putin forderte, die "unmenschlichen Vorfälle" aufzuklären.
Fronteinsatz für 15.000 Rubel
Jurij Balujewskij, der stellvertretende Generalstabschef, geht davon aus, dass der nächste Krieg, von dem Russland betroffen sein oder an dem es sich in der einen oder anderen Form beteiligen könnte, kein nuklearer Schlagabtausch sein werde. Für die Zukunft brauche man daher "professionelle und keine besonders großen Streitkräfte", die sich jederzeit durch die massierte Einberufung von Reservisten aufstocken ließen. Mit anderen Worten, Balujewskij verabschiedet damit eine Wehrpflichtarmee alten Stils, die sich eine Regionalmacht wie Russland nicht mehr leisten kann und will, ganz abgesehen davon, dass die Wehrbereitschaft erheblich gesunken und von Wehrgerechtigkeit keine Rede sein kann. Im Jahre 2002 lag die Tauglichkeitsrate aller gemusterten jungen Männer gerade noch bei 69 Prozent. Dank diverser Freistellungsmöglichkeiten und häufiger Schmiergeldzahlungen werden inzwischen pro Jahrgang nur noch 30 Prozent der 18-Jährigen eingezogen.
Nach den Plänen des Verteidigungsministeriums soll daher die Zahl der Vertragssoldaten ("Kontraktniki") spätestens 2007 auf 155.000 in dann 115 "Einheiten der ständigen Bereitschaft" gestiegen sein. Ende 2003 meldete Iwanow stolz die Bildung einer ersten, ausschließlich aus "Kontraktniki" rekrutierten Division im nordwestrussischen Pskow, obwohl es bis zuletzt geheißen hatte, es sei ausgesprochen schwierig, genügend Anwärter für diese Einheit zu finden - der Sold von 5.300 Rubel (150 Euro) sei alles andere als attraktiv. Doch Iwanow lässt sich nicht beirren, schon ab 2005 sollen keine Wehrpflichtigen mehr an "heiße Punkte" geschickt werden, sondern Kampfeinsätze wie in Tschetschenien allein den "Kontraktniki" vorbehalten bleiben. Wer dorthin verlegt werde, dürfe mit 15.000 Rubel (440 Euro) Sold pro Monat rechnen.
Sollte es wirklich gelingen, 2007 das gewünschte Quorum von 155.000 Vertragssoldaten zu erreichen, könnten schon ein Jahr später - kalkuliert das Verteidigungsministerium - 49 Prozent der Soldaten und Sergeanten innerhalb der dann nur noch 1,2-Millionen-Mann-Armee der Nukleus eines Berufsheeres sein. Im Gefolge einer solchen Entwicklung ließe sich der Wehrdienst von 24 auf 12 Monate verkürzen, so dass bis 2010 die Gesamtstärke der Streitkräfte auf 850.000 Soldaten sinken werde. Um die bislang unbefriedigenden Bewerberzahlen für eine Berufsarmee zu kompensieren, will der Verteidigungsminister auch Freiwillige aus den GUS-Staaten einbeziehen. Ukrainern und Kasachen winkt nach drei Jahren Dienst die russische Staatsbürgerschaft. Der Vorschlag ist politisch einigermaßen brisant und juristisch nicht abgesichert, verbieten doch die Gesetze der GUS-Staaten den Militärdienst für fremde Armeen im Ausland. Ausnahmen erlauben bislang nur Tadschikistan und Kirgisien, sofern Russland seine dort stationierten Einheiten auffüllen will
Angesichts der Negativschlagzeilen aus der Armee versucht sich Wladimir Putin als Macher zu präsentieren, der mit anachronistischen Zuständen aufzuräumen versteht. Viele Russen halten das reichlich einen Monat vor der Präsidentenwahl für reine Wahlpropaganda. Selbst die größten Patrioten versuchen heute, ihre Söhne vom Militärdienst freizukaufen. Das sagt einiges über den Zustand der Streitkräfte aus, denen eine Transformation zum Berufsheer wirklich von Nutzen sein könnte.
Veränderung des Bestandes der russische Sicherheitskräfte zwischen 1992 - 2003
Admiräle
Quelle: Unabhängige Militärrundschau (NWO)
Struktur der russischen Sicherheitskräfte (2003)
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