Auf der Dorfstraße von Kondraschowka, wo sonst Kinder mit ihren Fahrrädern entlangrasen, liegen unter Decken die Leichen mehrerer Bewohner. Sieben Tote, darunter ein fünfjähriger Junge, und elf Verletzte sind die Folge eines Angriffs ukrainischer Kampfjets am Morgen des 2. Juli. Die Bomben haben bis zu anderthalb Meter tiefe Krater in die Dorfstraße gerissen. Vor eingestürzten Häusern hocken verstörte Menschen, die fragen: „Wofür bestraft man uns?“ Im Ort und ringsherum gibt es keine Aufständischen. Entweder habe der Pilot zu früh auf den Knopf gedrückt – die nächste Stellung sei gut drei Kilometer entfernt – oder tatsächlich den Befehl bekommen, Kondraschowka zu bombardieren, sinniert Juri, ein Anwohner, der früher Militärpilot war. Alexander, etwa 35 und völlig verzweifelt, fordert einen Korrespondenten im Befehlston auf, seine Mutter und seine Großmutter zu filmen. Die liegen mit abgerissenen Gliedmaßen unter einer weißen Gardine. „Hier liegen Terroristen“, schreit er.
Die Kommandeure der Anti-Terror-Operation schieben zunächst dem Gegner die Schuld für Kondraschowka zu. „Terroristen“ seien es gewesen, die einen „heimtückischen Angriff mit Granatwerfern“ gegen das Dorf geführt hätten, um ukrainische Truppen dafür verantwortlich zu machen. Dann jedoch gibt es Ende der Woche das überraschende Eingeständnis von Igor Mosijtschuk, Chef der Spezialeinheit „Asow“, der dem Fernsehkanal 112 erklärt, es könne sein, dass es sich beim Beschuss von Kondraschowka um einen Pilotenfehler handelte.
Tage zuvor, am 30. Juni, wird Anatoli Kljan, Kameramann des russischen Fernsehsenders Pervi erschossen, als er mit Soldatenmüttern und Journalisten am Rand von Donezk per Bus zu einer ukrainischen Kaserne fährt. Die Frauen wollen ihre Söhne sehen und Journalisten das festhalten. Plötzlich wird der Bus während der Fahrt beschossen, Kljan am Bauch getroffen und ins nächste Hospital gebracht, wo er stirbt. Dass die Ostukraine derzeit so gefährlich wie Syrien sein kann, zeigt allein die Zahl getöteter Korrespondenten, fünf seit Ende April. In Moskau meint Wladimir Markin für das russische Ermittlungskomitee, den Tod des Kameramanns habe Igor Kolomoiski, Gouverneur von Dnjepropetrowsk, zu verantworten. Der unterhalte eine Privatarmee, bei der es Kopfgelder für die „Fans von Separatisten“ gäbe.
Die seit einer Woche mit Artillerie, Panzern und Kampfflugzeugen geführte Offensive wirkt nicht nur in Kondraschowka wie eine Strafaktion gegen die russische Bevölkerung im Südosten. Seit Präsident Petro Poroschenko am 1. Juli die Waffenruhe einseitig widerrufen hat, soll offenbar eine militärische Entscheidung erzwungen werden. Dass es eine derart massive Operation gibt, dürfte kein Zufall sein. Wer Städte und Dörfer im eigenen Land beschießen lässt, dem sind moralische Kollateralschäden scheinbar gleichgültig. Poroschenko hat prophezeit, die Operation werde „nicht Monate dauern, sondern Stunden“. Doch dauert es länger, wenn eine ganze Region dafür büßen muss, sich ihm widersetzt zu haben.
Als die Armee am 5. Juli in Slawjansk einrückt, haben etwa 60.000 der einst 100.000 Bewohner die Stadt längst verlassen, nicht allein wegen der Gefechte. Es gibt so gut wie keinen Strom, kein Wasser und keine Lebensmittel mehr. Die Hospitäler sind überfüllt und leben von den letzten Medikamenten.
Im ukrainischen Fernsehen wird unterdessen heftig debattiert, ob Russland an allem schuld sei, weil es so viele Söldner eingeschleust habe. Mark Franchetti, Moskau-Korrespondent der Sunday Times, hat keinen leichten Stand. Er ist der Talkshow Schuster live zugeschaltet und schildert Eindrücke aus dem Osten. Die meisten Kämpfer der Separatisteneinheit Wostok, die er drei Wochen lang begleitet habe, seien „einfache Ukrainer ohne Kriegserfahrung“ gewesen. Die Männer hätten ihm gesagt, dass sie „ihre Häuser vor den Faschisten verteidigen“. Die Teilnehmer der Talkrunde schauen nervös. Geheimdienstchef Walentin Naliwaitschenko rollt mit den Augen, ein junger Kommandeur der Spezialeinheit Dnjepr verzieht das Gesicht. Franchetti lässt sich nicht beirren und erzählt, dass die Wostok-Leute versucht hätten, einen ukrainischen Grenzposten zu stürmen, und in ein Gefecht mit vielen Verwundeten verwickelt wurden. Die Einheit habe sich dann auf russisches Gebiet zurückgezogen. Dort seien die Kämpfer von Grenzschützern entwaffnet worden.
Nun ist es mit der Geduld der Talkgäste definitiv vorbei. Anton Geraschenko, Berater des Innenministers, stöhnt, was Franchetti erlebt habe, sei eine vom russischen Geheimdienst „sehr gut eingefädelte“ – Geraschenko klatscht theatralisch in die Hände – „Spezialoperation“ gewesen. Man wollte, dass ein westlicher Korrespondent das in Europa verbreite. Dabei wisse doch jeder, dass Russland Waffen liefere und die Aufständischen mit Geld versorge.
Zurück nach Asien
Tenor der Debatte ist von Anfang an: Die Ukraine steht im Überlebenskampf gegen Russland und muss sich ihrer Haut erwehren. Da hat es auch die Rocksängerin und Majdan-Aktivistin Ruslana nicht leicht mit ihrem Statement, das Wichtigste sei es, den Menschen in Slawjansk, Kramatorsk und anderswo bei der rettenden Flucht vor den Kämpfen zu helfen. Man müsse mit ihnen reden und sie dazu bewegen, nicht nach Russland zu fliehen, sondern in der Ukraine zu bleiben. Sie sammle gerade Geld für den Osten. Auf die Regierung müsse man Druck ausüben, damit sie sich an der Flüchtlingshilfe beteilige. Bisher gebe es lediglich eine Datenbank für Flüchtlinge, damit Familien wieder zueinanderfänden, die sich aus den Augen verloren hätten.
Was für eine wirksame Flüchtlingshilfe vor allem fehlt, das sind „humanitäre Korridore“. Aber dazu müsste Kiew mit den „Terroristen“ offiziell verhandeln. Wozu? Zunächst sollen die ja vernichtend geschlagen werden.
Bleibt der Kreml bei seiner Entscheidung, keine Truppen in die Ostukraine zu schicken, obwohl die Hilferufe von Igor Strelkow, dem Oberkommandierenden derDonezk-Armee, immer lauter werden? In einem Videointerview klagt er, die Aufständischen würden von der Übermacht der Angreifer zerrieben, wenn nicht bald Entsatz käme.
Wie lange wird die Schlacht um den Donbass noch so weitergehen, wie sie jetzt geführt wird? Pawel Michailow, Journalist beim neugegründeten Donezk-Radio, meint, das könne „lange dauern, vielleicht Jahre“. Es sei nachvollziehbar, dass Wladimir Putin keine Truppen schickt. „Mit dem Großangriff will Kiew Russland nur zum Eingreifen provozieren, damit es sich international komplett isoliert.“ Der Moskauer Völkerrechtler Sergei Tolstow sieht es ähnlich, die Ukraine sei zum Vorposten einer von den USA dirigierten Operation geworden, deren Ziel es sei, „Russland nach Asien zurückzudrängen“.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.