Der Mann, der sein Amt mit einem Hut verwechselte

Neurotraumatologie Das ­Gehirn ist ein geheimnisvolles Organ. Selbst kleinste Verletzungen bei scheinbar harmlosen Unfällen können dramatische Persönlichkeitsveränderungen zur Folge haben

Richard Feynman, ein Physiker wie Angela Merkel und Dieter Althaus, benahm sich eines Tages absonderlich und gab bei seiner Vorlesung viel wirres Zeug von sich. Er selbst hielt sich jedoch für völlig normal und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Anschuldigung seiner besorgten Studenten, nicht ganz bei Trost zu sein. „Normalität“ hatte für ihn, über den so viele Anekdoten überliefert sind, dass sie eine ganze Buchreihe füllen, eigentlich schon an normalen Tagen eine ziemlich spezielle Bedeutung; er hielt sich für einen professionellen Bongospieler und schrieb im pietistischen Amerika seine quantenfeldtheoretischen Forschungsarbeiten vornehmlich am Tresen der örtlichen Strip-Bar. Aber unverständliches Zeug brabbeln?

Diesmal hatte Feynman sich einfach am Vorabend bei einem Möbeltransport den Kopf gestoßen. Nur dank der erzwungenen Einlieferung in eine neurologische Klinik überlebte er die Hirnblutung ohne bleibende Schäden. Selbst ein Genie, einer der scharfsinnigsten Denker des 20. Jahrhunderts besitzt keine Fähigkeit zur neurologischen Selbstdiagnose. Trotz seiner legendären wissenschaftlichen Beobachtungsgabe war Feynman unfähig zur Einsicht, nicht mehr durch den eigenen freien Willen, sondern durch eine hirnorganische Verletzung gleichsam fremdbestimmt zu handeln.

Hirnforscher sprechen von Anosognosie, der Wahrnehmungsblindheit gegenüber den eigenen neurologischen Ausfällen. Den ersten Fall hatte schon der römische Philosoph Seneca beschrieben: Eine Frau, die nach ihrer Erblindung einfach steif und fest behauptet hatte, bei ihr zu Hause sei es dunkel geworden. Und keinen Widerspruch von Sehenden duldete.

Süßes Vergessen

Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat die Wissenschaft angefangen, die seltsame Abhängigkeit unserer Personalität, unseres Denkens, Fühlens und Handelns von den organischen Funktionen des Gehirns systematisch zu erforschen und in Ansätzen zu verstehen. Mit schwerwiegenden Konsequenzen für unser metaphysisches Selbstbild. Und für die Frage, wie wir angesichts der Beschränkungen und neuronalen Abhängigkeiten unseres Denkorgans trotzdem eine verantwortliche Organisation von Staatsverwaltung und Rechtsystem erreichen können.

Nach einem Hirntrauma, verursacht beispielsweise durch einen Unfall, tritt häufig eine retrograde Amnesie auf: Der Patient kann sich an den Unfall nicht mehr erinnern und fühlt sich deshalb auch moralisch nicht verantwortlich. An diesem Zustand ändert sich normalerweise auch nach der Abheilung aller übrigen Unfallfolgen nichts mehr. Möglich ist jedoch auch ein zweites, bedenklicheres Stadium, die anterograde Amnesie: Der Patient kann nach dem schädigenden Ereignis auch neue Erlebnisse nicht mehr behalten. Der Betroffene wirkt dabei völlig normal, vergisst aber alles, einschließlich des Wissens über die eigene Vergesslichkeit und entwickelt so weder Krankheitsbewusstsein noch Leidensdruck. Natürlich besteht dabei die Gefahr der Selbstüberschätzung mit fatalen Konsequenzen für sich selbst und für die Umwelt.

Das traditionelle Personenmodell, dem noch heute die meisten Menschen anhängen, betrachtet das „Ich“ als eine integrale Einheit: Entweder ich bin wach, selbstbewusst und für mein Tun voll verantwortlich. Oder ich bin tot, schlafend oder in einem schuldausschließenden Wahnzustand. Zu den graduellen Zwischenzuständen macht die Küchenpsychologie bestenfalls noch Zugeständnisse hinsichtlich der bekannten Wirkung einiger traditioneller stimmungsverändernder Drogen.

Radikal verschieden hiervon ist das Ich-Modell, wie es modernen Hirnforschern wie beispielsweise Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit (Suhrkamp 1994) oder auch nach dem höchst unterhaltsamen Klassiker von Oliver Sacks Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (Rowohlt 1987) unvermeidbar erscheint. Eine Person setzt sich hiernach aus ganz unterschiedlichen funktionalen Modulen zusammen, von denen jedes einzelne unabhängig von den anderen geschädigt werden oder ausfallen kann. Und über all diesen disparaten, unzusammenhängenden Hirnprozessen konstruiert sich das „Ich“ notfalls mit Brachialgewalt gegen alle Evidenz die Illusion eins scheinbar konsistenten und selbstverursachten Handelns, Denkens und Fühlens.

Böse Taten fremder Beine

Beispielsweise ein epileptischer Herd im rechten Schläfenlappen der Großhirnrinde: Die Person wird von transzendenten Entgrenzungsvisionen heimgesucht; oft werden solche Menschen tief religiös. Oder auch schon die berühmte erste Fallstudie der funktionalen Neuroanatomie: Phineas Gage. 1848 überlebt er einen Unfall mit bleibenden Narben am Frontalhirn, und ohne dass er selbst die Veränderung als Krankheit empfunden hätte, wurde aus dem pflichtbewussten und sorgfältigen Arbeiter plötzlich ein hedonistischer Lebemensch.

Die Somatoparaphrenie ist eine andere befremdliche Symptomatik einer lokalen Hirnschädigung: Die Person verliert das Körperbewusstsein über eine ihrer Extremitäten und betrachtet folglich die Muskelbewegung dieser ­— organisch völlig gesunden — Extremität nicht mehr als die eigene. Solche Leute behaupten zum Beispiel steif und fest, dass ihr rechtes Bein einem anderen Menschen gehört und sind auch entsprechend nicht gewillt, für die Handlungen ihres rechten Beins die Verantwortung zu übernehmen.

Auf der Wahrnehmungsseite kann es nach einer Hirnschädigung zu einem Hemineglect kommen. Der Patient weigert sich plötzlich, die Welt im rechten Gesichtfeld wahrzunehmen. Obwohl das rechte Auge völlig intakt ist, leugnet er die Existenz von Allem, was er mit diesem Auge sieht. Weil aber nur das bewusste Erkennen gestört ist, während alle unbewussten Wahrnehmungen und Reflexe weiterhin funktionieren, führt dies Symtomatik regelmäßig zu ganz seltsamen Selbstrechtfertigungen des Patienten und fantasievollen Konfabulationen.

Das Neglect-Symptom kann auch in einer objektbezogenen Version auftreten, bei der verschiedene Typen von Wahrnehmungen dem Patienten nicht mehr ­zugänglich sind. Bei einer Prosopagnosie beispielsweise verliert man plötzlich die ­Fähigkeit, bestimmte Typen von Wahrnehmung zu machen, beispielsweise Gesichter zu erkennen. In anderen Fällen moralische Werte.

Sigmund Freud und die modernen Philosophen des Geistes sind einig mit der Feststellung: Das Ich ist nicht immer Herr im eigenen Haus. Nicht nur bei Spitzenpolitikern eine beängstigende Vorstellung.

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