Internat Salem: Die Kevins hau'n uns raus!

Internatserziehung | Demokratische Mitbestimmung mache die Schule Schloss Salem unregierbar, befand Leiterlegende Bernhard Bueb in seinem "Lob der Disziplin". Dummes Geschwätz von gestern?

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„Würde man in Deutschland eine Umfrage machen, welche Schule die beste Deutschlands sei", heißt es in einem Positionspapier der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung (vgl. „Reformpädagogische Schulkonzepte - Motoren einer liberalen Erneuerung unserer Schulen) aus dem Jahr 2005, "würde Schloss Salem mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf einem der vorderen Plätze zu finden sein, hat es doch gemeinhin den Nimbus, die deutsche Eliteschule zu sein.“

Unregierbar durch zu viel Demokratie?

Demokratische Mitbestimmung der Schüler scheint allerdings nicht zum unverzichtbaren Markenkern einer Vorzeigeschule mit dem Nimbus eines Eliteinternats zu gehören. Folgt man dem Erstlingswerk ("Lob der Disziplin", erschienen 2006) des nach seiner Pensionierung 2005 zum pädagogischen Volksschriftsteller mutierten langjährigen Leiters des Instituts, Bernhard Bueb, ist eher das Gegenteil der Fall. Er erklärte die Beteiligung gewählter Schülervertreter an maßgeblichen Entscheidungen unter Berufung auf die Erfahrungen seiner 31-jährigen Amtszeit kurzerhand zur Schnapsidee und schwärmte von einer vordemokratischen Blütezeit Salems, die sich wohlgemerkt von 1920 bis zum Ende der 1960er Jahre erstreckte:

„Im ‚alten Salem’ wurden Schulsprecher und Helfer vom Leiter ernannt, es galt ein monarchisches Prinzip. Seit 1970 werden sie von den Schülern gewählt. Diese Dermokratisierung wird als Fortschritt interpretiert, weil seither die Gewalt ‚vom Volk’ ausgeht. Man versprach sich von dieser Umstellung, dass Schüler dadurch eher eine demokratische Mentalität entwickeln können, weil das Wahlsystem unsere bundesrepublikanische politische Wirklichkeit widerspiegele... [...] Die Regel, das Bett nach dem Aufstehen zu machen oder zu einer bestimmten Uhrzeit im Bett zu sein, die Rauch- und Trinkverbote wurden im ‚alten System’ von den Helfern erfolgreich kontrolliert, weil sie ihr Mandat nicht von denen erhielten, die sie kontrollieren sollten. Die gewählten Schüler hingegen glauben, ihren Auftrag dann gut zu erfüllen, wenn sie sich für mehr Freiheiten und Privilegien, also für die Lockerung von Regeln aller Art einsetzen, das reicht von der Zubettgehzeit bis zum Umgang mit Alkohol. [...] Das System produziert eine Gewerkschaftsmentalität, es fördert Egoismus und Spaßhaltung. Die Schüler lernen Politik als die Kunst, ihre Rechte, ihre Vorteile, ihre Freiheiten und ihre Bequemlichkeiten durchzusetzen. [...] Auch ich habe lange an eine Erziehung zur Demokratie durch frühe Demokatisierung der Schüler geglaubt. Inzwischen vertrete ich die Auffassung, dass Internate wie Salem mit einer demokratischen Schülermitverwaltung unregierbar sind“ (Lob der Disziplin, S. 84 ff.).

Liest man, nach welchen Kriterien die Salemer Schülerschaft ihre demokratischen Vertreter wohl vornehmlich auswählte, so könnte man fast Verständnis für Buebs Urteil entwickeln. Unter den Reminiszenzen ehemaliger Schüler, die DIE ZEIT unter dem Titel "Unser Lehrer Dr. Bueb" im Jahr 2006 veröffentlichte, findet sich etwa der nachfolgende Bericht:

»Ich war ziemlich renitent und musste unbedingt von zu Hause weg. Herrn Bueb habe ich die meiste Zeit aus der Ferne erlebt; er war eine graue Eminenz. Nur als ich zum Schulsprecher gewählt wurde, hatten wir ein Problem miteinander. Jemand wie ich könne nicht Schulsprecher werden, sagte er, mit meinen andauernden Regelverstößen sei ich kein Vorbild. Ich habe damals heimlich geraucht, häufig die Schule geschwänzt, das Schulgelände nachts verlassen, Schulbusse 'ausgeliehen'. Obwohl eine große Mehrheit der Schüler mich wählte, habe ich dann das Amt nicht angenommen – eine 'diplomatische Lösung'. «

Ein regelrechtes Trauma dürfte bei Bueb die Schülerrebellion des Jahres 2001 hinterlassen haben, als in dem erst ein Jahr zuvor feierlich eröffneten "Salem International College" offene Feindseligkeiten zwischen deutschen und ausländischen Schülern ausbrachen. Ein Schüler erinnert sich in dem bereits zitierten Beitrag der Hamburger Wochenzeitung:

»Wir hissten die deutsche Fahne

Im Jahr 2001 hatten wir als Schüler den Eindruck, dass die alten Werte, die wir schätzten, ein wenig verloren gingen. Die Ausbildung wurde mehr und mehr verweichlicht. Viele neue Schüler haben von Anstand und Disziplin wenig mitbekommen. Wir haben uns dagegen aufgelehnt, haben deutsche Fahnen gehisst und uns bewusst zu alten Traditionen und Werten bekannt. Es war eine Gegenbewegung zur antiautoritären Erziehung. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Disziplin von der Schule vorgegeben wird. Ich bin mir sicher, dass alles viel strenger wäre, wenn die Schüler das Sagen hätten.«

Die fast sechs Jahre währende Leitungskrise, die die Schule nach der Pensionierung Buebs - trotz aller äußerlich zur Schau getragenen Gelassenheit - in erhebliche Turbulenzen stürzte, scheint ebenfalls mit einer zu starken Machtstellung der Schülerschaft in Zusammenhang zu stehen [Anmerkung: Hier zeigen sich allerdings auch die leider nirgends offen thematisierten Probleme einer mit fast 700 Internatsplätzen an vier Standorten absolut überdehnten Einrichtung und der Aufsplitterung von Entscheidungsbefugnissen auf zu viele Gremien wie z.B. das Kuratorium des Schulvorstands, den Schulträgerverein, die Kurt-Hahn-Stiftung, eine gemeinnützige Schulbetriebs-GmbH mit drei Geschäftsführern, den Betriebsrat, den Elternbeirat, die Schülervertretung!).

Ingrid Sund, Buebs direkte Nachfolgerin, und ihr Oberstufen- leiter Pelham Lindfield Roberts, die sich - getreu dem in "Lob der Disziplin" niedergelegten Vermächtnis des Amtsvorgängers - ein hartes Durchgreifen gegen Alkoholkonsum, illegale Drogen und nächtliches Aussteigen auf die Fahnen geschrieben hatten, wurden bereits vor Ablauf der Probezeit - wie zu vermuten ist, auf Druck von Schülern und Eltern - abgelöst. Gegenüber SPIEGEL Online erklärte Sund, in Salem "viele interessante Erfahrungen" gemacht zu haben, sich aber zu den Umständen ihres plötzlichen Abschieds nicht äußern zu wollen.

Auch über die Personalie Pelham Lindfield Roberts gibt es nur Gerüchte. Es ist aber allgemein bekannt, dass Führungskräfte aus angelsächsischen Boarding-Schools, die an Landerziehungs- heimen gern angestellt wurden, um ihnen ein "englisches Flair" zu verleihen und so die massenhafte Abwanderung deutscher Schüler nach England zu stoppen, mit der dort gepflegten Kultur demokratischer Beteiligung der Edukanden nur sehr schlecht zurecht kamen. "Man trennte sich" heißt es in einem Bericht des Überlinger "Südkurier", "wohl weil die Vorstellungen des Briten, der das Amt des 'Headmasters' als Position von nahezu unumschränkter Macht kennt, und die der deutschen Eliteschule, die Wert auf flache Hierarchien legt, sich nicht vereinbaren ließen."

Offenen Aufruhr erzeugte dann im Jahr 2010 erneut die einsame Entscheidung des Kuratoriums des Schulträgervereins, die kommissarisch besetzte Gesamtleiter-Stelle mit der CSU-nahen Schweinfurter Gymnasialdirektorin Monika Zeyer-Müller zu besetzen. Nach massivem Widerstand von Eltern-, Schüler- und Lehrerseite wurde ihr Vertrag vor Dienstantritt aufgelöst. Weitere Konsequenz aus der missglückten Berufung: Der fünfköpfige Vorstand des Schulträgervereins, darunter der Chef des Aufsichtsrats der Deutschen Bank, Clemens Börsig, der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Günther Oettinger, der Industrielle August Oetker sowie Prinz Bernhard von Baden, trat Mitte April 2010 geschlossen zurück.

In einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung, der gängigen Internatsklischees an bekannten Edel-Anstalten nachspürte, findet sich folgende Aussage des damaligen Salemer Schülersprechers Alexander Lorf:

"Vor zwei Jahren wurde in Salem eine Direktorin vorgestellt, die sich den Sympathien sämtlicher Schüler entzog. Die Schülerschaft trat als geschlossene Gemeinschaft auf und sorgte dafür, dass die Frau nie ihr Amt antrat."

Dass Schüler eines Internats in dieser Form ihren Einfluss geltend machen und "mitregieren", ist in der deutschen Internatslandschaft sicherlich eher die Ausnahme als die Regel. Aber ist dies überhaupt als Ausdruck eines Übermaßes an demokratischer Mitwirkung zu deuten?

Palastrevolutionen, Zwergenaufstände, "als geschlossene Gemeinschaft" aufzutreten und "dafür zu sorgen, dass..." - dies alles hat mit Demokratie im Sinne von Gewaltenteilung, parlamentarischer Gesetzgebung, Rechtsstaatlichkeit und einer mittels Recht und Gesetz kontrollierten Exekutive nicht viel gemein. Hier erkennt man eher die Gewohnheiten derer, die die Macht des Geldes missbrauchen oder Beziehungsnetzwerke nutzen, um hinter den Kulissen die Strippen zu ziehen und ihre Interessen ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz, Zuständigkeiten oder Verfahrensvorschriften "par Ordre de Mufti" durchzusetzen.

Wer zahlt, schafft an. Und dass demokratische Erziehung in Salem weder zur Gründungstradition gehört noch das aktuelle Hauptgericht auf der pädagogischen Speisekarte darstellt, ist leicht an der Selbstdarstellung des Instituts zu erkennen, die der Öffentlichkeit und vor allem der elterlichen Kundschaft von je her den hohen Stellenwert von "Zucht und Ordnung" kommunizierte und neuerdings verstärkt damit wirbt, den Schülern unternehmerische "Führungsqualitäten" zu vermitteln. Offensichtlich erwarten die Eltern in erster Linie, dass Sohn oder Tochter "funktionieren" und ein möglichst gutes Abitur einfahren, nicht aber, dass sie im Internat zu Volkstribunen trainiert werden. Dies dürfte insbesondere auf die wachsende internationale Kundschaft zutreffen, die aus Staaten herbei strömen, die nicht gerade als lupenreine Demokratien gelten. "Freie Plätze lassen sich derzeit problemlos mit den Kindern reicher Russen oder Chinesen besetzen", stellt DIE ZEIT fest, warnt aber zugleich:

"Von Internaten im Ausland weiß man allerdings, dass ein zu hoher Anteil internationaler Schüler einheimische Eltern eher abschreckt. Gerade die englischen Internate, die in den vergangenen Jahren stark von den Deutschen nachgefragt wurden, würden sich eher wieder vom Ausland abschotten, sagt der unabhängige Internatsberater Peter Giersiepen. 'Wer sich in England als Eliteinternat versteht, hat nie mehr als 15 Prozent internationale Schüler.'"

Vor allem russische Oligarchen, die zusammen mit ihren entführungsgefährdeten Sprösslingen gleich einen Trupp Leibwächter im Internat einzuquartieren pflegen, dürften recht eigentümliche Ansichten von Demokratie und rechtsstaatlicher Ordnung in die pädagogische Provinz am Bodensee importieren. Aber auch die einheimische Kundschaft scheint in der Schule Schloss Salem nicht unbedingt für die parlamentarische Demokratie zu entbrennen - trotz sozialer Dienste und Engagement in der Schülervertretung.

Der Mythos von Zucht und Ordnung

Doch Zucht und Ordnung sind ohnehin nur ein Salemer Mythos. Damit war's bereits gründlich vorbei, als die Salemer Leiterlegende Bernhard Bueb ins Amt kam. "Salem war 1974 nur noch ein Trümmerhaufen", beschreibt der SPIEGEL die damalige Situation. "Die Schuluniformen waren abgeschafft, die Rituale ebenso, Alkohol, Drogen überall, die Stelle des Internatsleiters seit Jahren nur kommissarisch besetzt. 'Salem', sagt Bueb, 'war nicht vorbereitet auf 68 und die Folgen. Da herrschte noch der Offiziersgeist der Weimarer Republik.'"

Und was hat sich danach geändert? Ende der 1980er Jahre sah man Bueb in heftiger Gegnerschaft zum hochadeligen Schulpatron Max von Baden, der eine Rückkehr zur alten Disziplin forderte und der Mittelstufe den Mietvertrag für das prestigeträchtige Schloss Salem kündigte. Pressebeiträge von damals berichten über einen angeblichen „Salemer Sumpf aus Alkohol, Zigaretten, Drogen, Sex und Kleinkriminalität.“ Die Schule jedoch bestritt derartige Vorwürfe; trotz dokumentierter Schüleraussagen wie den folgenden:

"In der Verhandlung berichtete die Schülerin W., daß Jungens mindestens zwei- bis dreimal wöchentlich
in ihren Mädchentrakt ,,eingestiegen"seien. Sie sei in ihrem
Internatszimmer auf Schloß Spetzgart von einem Mitschüler beinahe vergewaltigt worden. Es seien Ketten an den Fenstern angebracht worden, was aber nicht viel geholfen habe. Manche Mädchen seien ,,abgestürzt".
Das Wort bedeute im Salemer Jargon, daß sich Mädchen
auf Intimitäten eingelassen hätten. Der Schüler B. sagte
aus, er habe als ,,Feuerwehrkapitän" einen sogenannten Zehnerschlüssel gehabt, passend für den Mädchenbau und für den Jungenbau. Es hätten illegal auch andere solche Schlüssel existiert, die verkauft und vermietet worden seien."

Im Jahr 2005, Bernhard Buebs "Lob der Disziplin" war noch nicht erschienen, aber seine Nachfolgerin Ingrid Sund gerade im Amt, startete die Schule Schloss Salem eine Image-Kampagne unter dem Titel: "Salem zieht die Zügel an - Regelmäßige Urinproben, Alkoholmeßgeräte in jeder Wohngruppe: In dem Internat am Bodensee wird deutlich mehr Wert auf Disziplin gelegt."

Wer gelernt hatte, zwischen den Zeilen derartiger Verlautbarungen zu lesen, erfuhr, dass Bernhard Bueb die Disziplin- und Drogenprobleme bis zum Ende seiner Leitertätigkeit offensichtlich nie wirklich in den Griff bekommen hatte. Das "Harte Durchgreifen" war jetzt Aufgabe seiner Nachfolger, während Bueb sein Versagen in der autodiagnostischen Streitschrift "Lob der Disziplin" nachträglich gewinnbringend vermarktete. Textauszug aus der "Welt am Sonntag":

"Keine Frage, Pelham Lindfield Roberts meint es ernst.
„Null Toleranz bei hartem Alkohol, Drogen und unerlaubtem Verlassen des Schulgeländes" ist das Credo des neuen Leiters der Oberstufe Salems. All dies war in dem Eliteinternat am Bodensee zwar schon immer
verboten, doch die Methoden, mit denen die Verbote
neuerdings durchgesetzt werden, sind härter geworden.
Jeden Tag müssen drei per Los bestimmte Schüler Urin-proben abgeben und diese auf Drogen testen lassen. Jeder Haustutor besitzt ein Alkoholtestgerät, und bei wem es mehr als 1,0 Promille anzeigt, der kann sich auf Ärger gefasst machen."

Wer dann tatsächlich Ärger bekam, wurde oben bereits dokumentiert. Die äußerst geschmeidige Prof. Eva Marie Haberfellner, die Sund im Amte folgte, setzte dann schon wieder auf pädagogische Konzilianz - laut "Stuttgarter Nachrichten" mit einer abstrusen Begründung:

"Doch während Bueb für eine harte Hand plädiert, setzt Haberfellner mehr auf „belohnen statt bestrafen“. Denn Gelegenheiten für Verstöße gibt es trotz der abgeschiedenen Lage des Internats zuhauf."

Heißt doch in Klartext: Wo Regelverstöße inflationär auftreten, sollte man mit Strafexpeditionen zurückhaltend sein. Und man erfährt auch etwas über den Hintergrund solcher Rücksichtnahme auf die Neigung der Salemer Eleven zur Delinquenz. Zitat Stuttgarter Nachrichten:

"Die Nachfrage nach finanzieller Unterstützung steigt; Eine wachsende Zahl von Eltern ist mit Zahlungen im Rückstand. „Mit einem Fonds für Härtefälle wollen wir sicherstellen, dass die betroffenen Kinder ihre Schulzeit bei uns beenden können.“

Und damit nicht zu Viele ihre Schulzeit aus disziplinarischen Gründen beenden müssen, heißt es eben zu belohnen statt zu bestrafen.

Auch Bernd Westermeyer, Gesamtleiter seit August 2012, gibt sich verständnisvoll. Wollte er noch zu Beginn seiner Amtszeit "die geistige Elite nach Salem holen" (BILD), führte er bereits wenige Wochen später Expertengespräche "über das Scheitern" und darüber, wie die Schule Schloss Salem die Scheiternden aufrichte (vgl. "DIE WELT" vom 25.11.2012). Und zum Thema "strenge Sitten" verlautete:

"Aber unter Schülern gibt es Liebe. Auch Sexualität ist da etwas ganz Natürliches. Das gilt übrigens genauso für den Umgang mit Alkohol. Wer bis zum Abitur im Internat keine Erfahrungen mit Alkohol gemacht hat, der verdient sein Abitur nicht. Der ist sozial kaum lebensfähig."

Also alles wie gehabt. Dennoch bleibt die Mär von Zucht und Ordnung, von den "Salemer Tugenden", den "strengen Regeln" und "harten Strafen" , denen Salemer Zöglinge sich zu unter- werfen hätten, irgendwie im kollektiven (Internet-)Gedächtnis haften und wird auch immer wieder neu genährt. Das hat handfeste wirtschaftliche Gründe. Indem der Mythos von Zucht und Ordnung in Presse und TV immer wieder gezielt lanciert (oder genüsslich aus der Schlüssellochperspektive kolportiert) wird, verbreitet sich das Image einer "Kaderschmiede mit Karrieregarantie". Und das steht für den Markt- und "Mehrwert" einer Salemer Internatserziehung, den die Schulleitung auf einem hart umkämpften Bildungsmarkt versilbern muss.

Größtes Problem an der Disziplin-Kampffront bleibt jedoch, dass es den Zöglingen aus Ober- und gehobener Mittelschicht - wie in jedem Luxusinternat mit "hoher Rolexdichte" zu beobachten - schlichtweg an Respekt vor Leitung und Lehrkräften fehlt. Die Ursachen liegen auf der Hand (nämlich in der Wohlstandsverwahrlosung der Reichensprösslinge einerseits und dem geringen Sozialprestige des Personals privater Erziehungsstätten, die von den Schulgeldzahlungen und Spenden der betuchten Kundschaft abhängig sind, andereseits), werden aber weitgehend verdrängt und tabuisiert.

So auch in den Büchern, Aufsätzen und Vorträgen des Bernhard Bueb. Dieser setzt dem uneingestandenen und daher um so mehr am Selbstwert nagenden Status des pädagogischen Domestiken wohlsituierter und teilweise prominenter Eltern und der in einer Reichenschule zwangsläufig versammelten Jeunesse Dorée (Lebensmotto: Ich darf alles!) eine "katholische Denkweise" entgegen: Der Papst ist der Papst, ob er etwas taugt oder nicht. Basta. Will sagen: Auch ein wenig charismatischer Lehrer (wie Bueb selbst!) hat einen Anspruch darauf, allein aufgrund seiner "Amtsautorität" von den Schülern respektiert zu werden. Schön wär's. Wenn pädagogische Theologie auf Wirklichkeit trifft...

Salemer Ehemalige erinnern sich da allerdings anders. So heißt es wiederum in der ZEIT:

"Traf man Herrn Bueb auf dem Flur, sollte man nicht »hallo« wie zu jedem anderen Lehrer sagen, sondern »Guten Tag, Herr Doktor Bueb«. So solle man mit allen Erwachsenen umgehen. Bei ihm haben wir uns daran gehalten, aber bei den anderen Lehrern weichte diese Distanz irgendwann auf. Auch die anderen Regeln habe ich nie als störend empfunden. Natürlich durfte man abends nicht einfach das Haus verlassen. Aber das heißt ja nicht, dass man es nicht getan hat."

Eine Salemer Stipendiatin urteilt rückblickend:

"Zu den Lehrern kann ich nur sagen: In meinen 9 Jahren auf Salem hatte ich nur 4 Lehrer, die man respektieren konnte, die souverän waren, ihren Stoff solide rübergebracht haben und sich nicht von den verwöhnten Fratzen, die da meine Mitschüler waren, haben einschüchtern lassen. Alle anderen waren nur dauernd bemüht, ja nicht auf die falsche Seite zu geraten und es sich mit den "Coolen" , den Cliquenchefs, zu verderben, denn dann wäre der Unterricht fast unmöglich gewesen. So sahen Lehrer seelenruhig zu, wie meine Schulsachen regelmässig aus dem Fenster flogen und anderer Unfug mit mir oder anderen armen Hanseln getrieben wurde. Die Mentoren auf den Flügeln - zuständig für Ordnung und Disziplin außerhalb des Unterrichts - waren noch schlimmer. So ziemlich alle litten unter Minderwertigkeitskomplexen. Kein Wunder wenn die Sprösslinge dort schon im zarten Alter von 12 mit Geld nur so um sich schmeißen, wärend man selbst ein eher mageres Gehalt bekommt und dafür 24 Stunden lang mit pubertierenden Prinzen und Prinzessinnen zu kämpfen hat, die noch nie gelernt haben, andere zu respektieren."

Regeln gibt es, aber man hält sich nicht daran, sondern tut nach außen hin nur so. Dies ist nicht nur eine subversive Überlebensregel in der Subkultur einer totalen Institution. Hartmut von Hentig hat bereits in den 1960er Jahren festgestellt*), dass sich die "Pädagogen" mit der Doppelbödigkeit einer zweiten Parallelwelt innerhalb der Parallelwelt des Internats in ähnlicher Weise arrangieren wie das Wachpersonal einer Justizvollzugsanstalt sich mit der Tatsache abzufinden hat, dass kriminelle Clanchefs und ihre Paladine die wahren Herren des Gefängnisses sind :

"Die Schule hat Regeln, von denen sie weiß, dass sie nicht gehalten werden; die Schüler wissen, dass die Schule das weiß, und übertreten sie; die einen haben sich mit der Regel, die anderen mit der Übertretung abgefunden - und fahren gut dabei. Ist es das, was Kurt Hahn will? Warum muss just in der Pädagogik so viel gelogen und kaschiert werden?

Daran hat sich auch aktuell so gut wie nichts geändert. Da die Schüler immer mehr zu Kunden werden, während die erziehungsuntüchtigen Eltern sich auf die Rolle der Zahlungspflichtigen beschränken, die das Luxusinternat finanzieren, für das der Nachwuchs sich entschieden hat, verfolgt man eine Doppelstrategie: Die Erwachsenen werden mit "strengen Prinzipien" beruhigt, der jugendlichen Kundschaft wird vermittel, das alles gar nicht so schlimm sei und der "Spaß" nicht zu kurz komme. Auf der offiziellen Webseite der Schule Schloss Salem heißt es daher in anbiederndem Schüler-Sprech:

"Aber keine Angst, die Regeln sind gar nicht so streng, wie sie sich anhören, und im Prinzip sind sie ganz einfach. Man darf in Salem kein Alkohol trinken und auch nicht rauchen. Wenn man erwischt wird, bekommt man eine angemessene Strafe und wenn man gegen diese Regeln weitere Male verstößt, muss man die Schule leider verlassen.

Klingt knallhart, aber jeder halbwegs intelligente Mensch weiß, dass wir Schüler doch immer Wege finden die Regeln zu umgehen. Und ich muss sagen, manche unter uns entwickeln dabei wirklich beneidenswerte Masterpläne. [...] Dies war jetzt natürlich nur ein Beispiel, aber ich könnte noch unendlich viele Seiten schreiben, um euch die Salemer Regeln zu verdeutlichen."

[...] Das wichtigste ist jedoch, dass wir Schüler in Salem viel zu sagen haben und unsere Meinung auch hohes Ansehen in der Lehrerschaft hat. Es liegt letztendlich an unserer Interpretation und Umsetzung der Regeln. Halten wir uns dran, werden sie entschärft. Halten wir uns nicht dran, sind wir selbst dran schuld, dass sie strenger werden."

Unregierbar durch die Normen der Subkultur

Die Gegenmacht der Schüler und die Unregierbarkeit der Schule Schloss Salem beruhen gar nicht auf deren demokratischen Mitwirkungsrechten, sondern auf den Herrschaftsstrukturen, die in der Subkultur einer totalen Institution bestehen und sich auf das Recht des Stärkeren stützen.

Wenn Bernhard Bueb die innerschulische Demokratie hätte abschaffen können, was er ja nie getan, sondern bestenfalls zum Programm erhoben hat, wäre die Schule Schloss Salem keinen Deut regierbarer geworden! Denn die Subkultur einer totalen Institution kann man nicht abschaffen. Das gelingt nicht einmal unter dem Ausnahmerecht und mit den Machtmitteln von Strafanstalten. Aus demselben Grund ist übrigens Buebs Vorstellung, das Institut mit Hilfe routinemäßiger Alkoholtests nach dem Ausgang und einiger Urinstichproben auf eine Handvoll illegale Drogen nach dem Zufallsprinzip drogenfrei zu halten, pure Illusion! Und Bueb weiß das natürlich.

Es hilft also überhaupt nichts, zu den oligarchischen Strukturen der Salemer Gründerväter, Max von Baden und Kurt Hahn, zurück zu kehren, die dem Kaiserreich nachtrauerten und die erste (Weimarer) Demokratie zutiefst verachteten. Und wenn Karl Heinz Heinemann die Position Buebs wie folgt zusammenfasst...

"Das Trachten des Menschen ist böse von Jugend auf, fasst er seine Erfahrungen mit faulen, lügenden, kiffenden und egoistischen Schülern zusammen. Für ihn ist Erziehung nichts anderes, als ständig dem Bösen im Menschen Grenzen zu setzen. Steht man nicht ständig regelnd und strafend hinter den Kids, dann laufen sie aus dem Ruder."

...wird vor allem eines deutlich:Ebensowenig wie die Bedingungen einer Strafanstalt den "guten Menschen" erzeugen, gelingt dies mit dem Ruf nach Respekt und Gehorsam, mit strengen Regeln, Strafen oder von der Schulleitung ernannten (statt gewählten) Hilfspolizisten aus der Schülerschaft in einer Internatsschule.

Kevin-Woche ohne Kevins

Der Satz stimmt natürlich auch, wenn man ihn umkehrt. Auch die schönste Internatsdemokratie beseitigt nicht die Gegenwelt der Schülersubkultur, die nach den Gesetzen des Wolfsrudels funktioniert und von den Schülern als das für ihr Leben und ihre Lebensqualität eigentlich bedeutsame System erlebt wird. Ja beide Welten berühren sich nicht einmal, weil sie im schlechtesten der Fälle vollkommen parallel laufen. Wäre es anders, gäbe es in demokratischen Musterländern keine Verhaltensabweichungen und keine Kriminalität.

Von daher bleiben alle "Demokratisierungsversuche" - auch die ausgeprägteren der Nach-Bueb-Ära, von äußerst geringem erzieherischen Wert. Mitbestimmungs-Prozeduren, wie man sie in Salem vorgeführt bekommt, könnte man auch im Rahmen eines Schülervereins vermitteln. Das Wort "Demokratie" oder gar "Schulstaat" muss man da nicht strapazieren, ja dies verbietet sich sogar direkt, weil man solche komplexen Systeme für die Schüler nur erlebbar und damit plausibel machen könnte, wenn tatsächlich parlamentarische Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in Schülerhand wären, was sich aus juristischen wie aus zeitlichen Gründen vermutlich verbietet.

Unter dem Leitbild, die Schüler „charakterlich [zu] formen“ und zu „mutigen, freien, glücklichen Menschen“ zu erziehen, hat man zwecks Förderung der demokratischen Einstellung der Eleven 2006 die so genannte "Kevin-Woche" ersonnen. Zumindest ein Mal im Jahr, nämlich während der Projektwoche, dürfen die Schüler statt der Lehrer-Erzieher (zumeist in kräftezehrender Doppelfunktion) "den Rohrstock schwingen".

„Schüler herrschen über das Internat Salem“, titelte die „Schwäbische Zeitung“, was allerdings nur bedeutet, dass diese „so viel wie möglich alleine regeln“ sollen. Dazu gehört dann selbstverständlich auch, „Freunde oder doch zumindest Kollegen möglicherweise hart für Regelverstöße [zu] bestrafen.“

Kevin-Woche, so die kindertümelnde Erklärung zur Namensgebung dieser Veranstaltung, leite sich von dem Filmtitel „Kevin allein zu Haus“ ab. Das will zwar irgendwie nicht recht passen, weil hier ein über Weihnachten allein im Elternhaus zurückgelassenes Grundschulkind das Familienheim mit keineswegs kindgerechter Kriegstechnik gegen kriminelle Eindringlinge verteidigt, aber schließlich gibt es in Salem ja auch ansonsten wenig Übereinstimmungen zwischen Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit.

Weder verlässt die Pädagogen-Crew während der Kevin-Woche ihren Aufsichtsbereich, noch dringt da irgendwer mit bösen Absichten von außen in das Klostergemäuer ein. Vor allem aber hört kein Salemer Eliteschüler auf den Vornamen Kevin. Denn dieser ist überwiegend bei Hartz IV-Empfängern oder anderweitigem Prekariat im Schwange. Deshalb bekommen ja Kevins und Justins, wie man unter „karrierebibel.de“nachlesen kann, schon in der Grundschule schlechtere Noten als Mitschüler, die auf Lukas oder Maximilian hören. Und deshalb lassen Eltern, die sich die Schule Schloss Salem leisten können, ihren Nachwuchs auch auf Namen wie „Cedrik oder Cassian, Clarissa oder Philippa“ taufen, wie Anja Reschke dies in der Panorama-Reportage „Wie Bildung Klassen schafft“ zuverlässig eruiert hat.

Um eine „Machtabgabe an die Jüngeren“, handelt es sich bei den Aktivitäten der Kevin-Woche nur insofern, als eine Minderheit der Schüler von den pädagogischen Hilfs-Sheriffs zu Hilfs-Hilfs-Sheriffs vereidigt wird. Die Masse der Schüler bleibt in der undankbaren Rolle der Rothäute. Nur naive Reformpädagogen mögen hier Ansätze einer Erziehung zu politischer Mitwirkung und sozialer Verantwortung erkennen.

Demokratie oder Mogelpackung?

Was hier sogleich auffällt: Der Kreis der Beteiligten innerhalb des Salemer Ämterwesens wie der "Kevin-Woche" bleibt äußerst exklusiv. Zudem bedeutet Beteiligung nicht Mitsprache, sondern nur Mitwirkung. Es handelt sich hier auch nicht um "Abgeordnete", sondern um „Amtsträger“, man könnte boshaft auch von Funktionsschülern oder Kapos sprechen.

Die Mehrheit der im demokratischen Geist zu Erziehenden bleibt damit Objekt fremder „Kontrolle“. Die „Amtsträger“ sollen, wie die Schwäbische Zeitung berichtet, „in Zukunft an Autorität gewinnen“, während dem Rest der Schülerschaft die Aufgabe zugewiesen wird, „stolz auf das zusammen Erreichte“ zu sein. Ist das ein Modell für Bürgerfreiheit und Bürgerbeteiligung in einer demokratischen Gesellschaft?

Die Übertragung von Kontrollfunktionen an Jugendliche ist eben nicht schon "demokratische Mitbestimmung", ebensowenig wie die Ausübung von Aufseherfunktionen durch Funktionshäftlinge "demokratisch" ist oder sein soll. Viel eher führt die Übertragung von erzieherischer Autorität auf Gleichaltrige oder Ältere, zumal wenn sie in sich wenig gefestigt oder gar überfordert sind, unweigerlich zu Loyalitätskonflikten. Möglich sind auch charakterliche Deformationen, selbst wenn man die "Funktionsschüler" von den Mitschülern wählen lässt und das "Ämterwesen" theroretisch in den Dienst des Erwerbs "sozialer Tugenden" (Charakterbildung!) stellt. In Wirklichkeit handelt es sich um ein System der Konditionierung und Indoktrinierung innerhalb einer totalen Institution.

Der Sinn des Salemer Ämterwesens bestand seit den Zeiten Kurt Hahns darin, einer Herkommenselite verwöhnter und "wohlstandverwahrloster" Adelssprosse und Großbürgerkinder unter den Bedingungen eines gemäßigten Bootcamps "Zucht und Ordnung" beizubringen. Und die viel gepriesene Elebnispädagogik, als deren "Erfinder" Kurt Hahn fälschlich bezeichnet wird und die heute eher unter "Event-Pädagogik" vermarktet wird, hieß anfänglich Erlebnis-Therapie,was den tatsächlichen Intentionen Hahns sicherlich näher kommt als der Begriff Erlebnispädagogik!

Die Salemer Erziehungsphilosophie war immer latent vordemokratisch und passt deshalb auch so gut in das heraufziehende postdemokratische Zeitalter. Die „Erziehung zur Verantwortung“ samt Ämterwesen und sozialem Pflichtprogramm, ist ein ritualisiertes "Leadership"-Training für Auserwählte, die formal zwar gewählt werden, aber sich ihren Wählern möglichst nicht verpflichtet fühlen sollen.

Als spätere „Verantwortungselite“ sind sie daher letztlich nur am eigenen Fortkommen interessiert. Den gemeinen Parlamentarier halten sie für eine Witzfigur, der "nichts zu sagen hat". Deshalb wollen sie später auch "Lobbyist" werden, weil sie ja wirklich etwas bewirken wollen. Nirgends wird dieser Zusammenhang deutlicher als in dem TV-Beitrag „Von Anfang an Elite“ (WDR, 02.09.2008) von Julia Friedrichs und Eva Müller. Die angeblichen demokratischen Prinzipien der Schule sind nur der Sand, den man der Öffentlichkeit in die Augen streut.

Die Salemer Kevins als nützliche Idioten

Kevins kommen in der Salemer Pädago-Polis deshalb auch bestenfalls als nützliche Idioten vor. Schon der Spiritus Rector und Mitbegründer der Schule, Kurt Hahn, wusste:

„Keine Schule kann eine Tradition von Selbstdisziplin und tatkräftiger, freudiger Anstrengung aufbauen, wenn nicht mindestens 30 Prozent der Kinder aus Elternhäusern kommen, in denen das Leben nicht nur einfach, sondern sogar hart ist (vgl. The Seven Laws of Salem, in Hahn, K.: Salem. Privatdruck (1930), S. 1-3. Übersetzt von M. Knoll).

Die Kevins – sprich Stipendiaten – hatten immer nur eine systemerhaltende Funktion. Sie sollten helfen, die von Dekadenz heimgesuchten Sprösslinge aus adligen und großbürgerlichen Familien in Schach zu halten. Ihnen überträgt man daher auch heute gern die Kapo-Funktionen, mit denen sie den Vollzahlern den Spaß verderben sollen. So heißt es auf der Webseite der „Kurt-Hahn-Stiftung“:

„Um dem Anspruch eines Eliteinternates gerecht zu werden, hat Salem bereits vor Jahrzehnten damit begonnen, systematisch eine Tradition zur Vergabe von Leistungsstipendien aufzubauen. In Salem möchte man durch Stipendien Schülerinnen und Schüler gewinnen und auszeichnen, die begabt sind, die Vertrauen in sich und in die Welt besitzen und für die der Eintritt in eine Internatsgemeinschaft eine Herausforderung und Chance darstellt. Solche Schüler profitieren von Salem, aber auch umgekehrt dienen sie der Schule in hohem Maße: Sie stiften einen "esprit de corps", eine Atmosphäre der Hochschätzung von Engagement und Leistungsbereitsschaft, ein Ethos der Zustimmung zu den Grundsätzen der Salemer Pädagogik. [...] Langjährige Erfahrungen haben gezeigt, dass die Mehrzahl der Stipendiaten die Herausforderungen von Unterricht und Internat annehmen. Sie wirken anregend auf die Schulgemeinschaft und erfreuen sich großer Anerkennung. Das zeigt sich unter anderem darin, dass viele Leistungsstipendiaten von ihren Mitschülern in führende Ämter gewählt werden [sic!]. In ihrer weiteren Biographie kann man verfolgen und feststellen, welche Stärkung ihre Persönlichkeit durch Salem erfahren hat und wie sie die Salemer Werte in ihrem späteren Leben vertreten.“

Die Karrieren machen dann letztlich nur diejenigen, die sich nicht weiter anstrengen müssen, anregend auf die Schulgemeinschaft zu wirken, weil auf sie zu Hause schon der weich gepolsterte Sessel des Juniorchefs wartet, und für die Salem bestenfalls ein (Heirats-)Markt für „gute Partien“ oder für die Anknüpfung lukrativer Geschäftsbeziehungen ist.

Ein bezeichnendes Beispiel veröffentlichte das mit mehreren Regionalausgaben in Düsseldorf erscheinende „Wirtschaftsblatt“ (3/12, S. 45) unter der Überschrift: “Salem – Verbindungen fürs Leben“:

„Georg, Spross einer alteingesessenen schwäbischen Unternehmerfamilie, war zwölf Jahre alt als sie sich kennen lernten. Kolja, ein Jahr älter, stammte aus einer nach der Wende wohlhabend gewordenen russischen Familie, die sich kulturell und wirtschaftlich nach Westeuropa orientierte. Heute ist Kolja Geschäftsführer des Maschinenbauunternehmens, für das Georg im Gesellschafterkreis die Familieninteressen vertritt. Dazwischen lag – Salem.”

Da mag der neue Salemer Schulleiter Bernd Westermeyer, abgeworben von einem preiswerten staatlichen Eliteinternat mit infolgedessen wesentlich besserer Schülerauswahl, die Zahl der Stipendiaten noch so "wichtig" finden. Die erzieherischen Vorteile der Stipendienpolitik des neuen privaten Brötchengebers liegen - wie schon unter Kurt Hahn - überwiegend bei den Reichen:

„Wir haben schon heute 20 bis 25 Prozent Stipendiaten, darunter auch Hartz IV-Empfänger. Die Zahl der Stipendiaten finde ich ganz wichtig, um eine breite pädagogische Wirkung zu erzielen – was auch unsere wohlhabenderen Eltern positiv sehen. Sie zahlen oft mehr Schulgeld als sie müssten, um damit Stipendien zu finanzieren. So kommen wir auf einen Stipendien-Pool von etwa 2,6 Millionen Euro pro Jahr. Viele Eltern wissen, dass es ihren Kindern gut tut, nicht nur Kinder mit einem gesättigten finanziellen Background zu treffen. Die Kinder müssen erleben, dass es Freunde gibt, die sich das Eis am Bodensee nicht leisten können, dass es peinlich wird, wenn man sich acht Kugeln kauft und dann die Hälfte wegwirft.“

Letztgenannte Peinlichkeiten dürften Luxusprobleme sein im Vergleich zu dem, was Kinder von Hartz-IV-Empfängern erwartet, die auf die Salemer Schnösel-Elite mit „gesättigtem“ Einkommenshintergrund treffen. Und auch der "Durchschnittsstipendiat" aus bildungsbewusster Mittelschicht macht dort Erfahrungen, über die auf der Salemer Leitungsetage reichlich realitätsfremde Vorstellungen zu herrschen scheinen.

Doch einen Trost gibt es für Geringverdienerkinder. Reichtum wird in dieser Gesellschaft immer mehr zum Feindbild. Und mittlerweile entdeckt man sogar eine Elite im nichtakademischen Prekariat: extrem (Über-)Lebenstüchtige und Erfolgreiche wie den Ghetto-Musiker Sido zum Beispiel, aber auch die "Helden des Alltags", die ihr Leben am unteren Rand der Gesellschaft bravourös meistern. Für diese, die wohl nie zu den Salemer Projektwochen-Kevins gehören werden, könnte der Kevin-Song von Pigor zur neuen Hymne werden.

„Die Kevins hau’n uns raus..."

Epilog

Inzwischen scheint Bueb sich als bekehrter Paternalist erneut bekehrt zu haben. Auf dem „3. Freiheitskongress 2010“ der Friedrich-Naumann-Stiftung hielt der von einem Blogger zum Konjunkturritter geschlagene Prinzipienreiter der Prinzipienlosigkeit und ewige Trittbrettfahrer des Zeitgeistes ein Referat mit dem Titel: „Wie Kinder mutig und frei werden“, in dem er das Gegenteil von dem postuliert, was er noch vier Jahre zuvor vertreten hatte:

„Erziehung heißt nicht nur Autorität, sondern auch Machtabgabe an die Jüngeren.“

Das versteht man nur vor dem Hintergrund des Kongressthemas „Die Schule als Polis“ und der dort in den Mittelpunkt gestellten Frage: „Wie können Kinder zu verantwortungsbewussten und zugleich freien Menschen erzogen werden?“ Da hieß es den alten Standpunkt zu „modifizieren“, um eingeladen zu werden und mal wieder einen Vortrag halten zu können.

Das Auditorium des 3. Freiheitskongresses 2010 lernte also nun den doppelt gewendeten Bueb und damit die wahrscheinlich hervorstechenste Eigenschaft des Oberlehrers der Nation kennen: Inkonsequenz. Buebs "Standpunkte" - so beklagt Wolfgang Bergmann sinngemäß in der FAZ - beschränken sich bestenfalls auf eine reißerische Überschrift, deren Aussage anschließend jedoch "weich gespült [werde] bis zur Beliebigkeit".

Und so beschreibt der Premium-Pädagoge nun nach dem Schnapsidee-Verdikt über demokratisch gewählte Schülervertreter in der Streitschrift "Lob der Disziplin", das der Hamburger ZEIT eine groß aufgemachte Replik aus Schülerperspektive wert war, plötzlich ein System als "beispielhaft", in dem sog. "Helfer" von den Mitschülern gewählt werden, über alles diskutieren und sogar Entscheidungen treffen dürfen:

„Die Schüler leben zusammen in Gruppen von 15 bis 20 mit einem Erzieher, der immer zugleich Lehrer ist (wir nennen ihn Mentor) und wählen einen älteren Schüler als Helfer. Dieser Helfer ist zuständig für die Atmosphäre in der Gruppe, für die Ordnung, für die Lösung von Konflikten, und die Mentoren erfüllen ihren Auftrag umso besser, je mehr Verantwortung sie auf die Helfer übertragen. Die Helfer bilden zusammen mit den Mentoren ein kleines Parlament, das über alles diskutiert und entscheidet, abgesehen von den Personalfragen der Erwachsenen. In diesem Amt eines Helfers lernen die Schüler die wichtigste politische Tugend, nämlich den Mut, das für recht Erkannte durchzusetzen. Diesen Mut müssen sie den Erwachsenen gegenüber aufbringen, sie müssen ihn aber vor allem gegenüber Gleichaltrigen beweisen."

Nur Mut, liebe Salemer Kevins!

*) Hartmut von Hentig: "Kurt Hahn und die Pädagogik". In: Röhrs, H. (Hrsg.): Bildung als Wagnis und Bewährung. Heidelberg, 1966, S. 41-82
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