Kür der Worte

(Un)Wort des Jahres 2016| Und wieder sensibilisieren uns sensible Sprachwissenschaftler für einen unsensiblen Sprachgebrauch. Was sollen solche Schutzgemein-schaften für Politik-Mimosen?

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Orientierungssuchenden im (Meinungs)Kampf der Vagen (und) Gesänge bieten selbst ernannte oder nach intransparenten Verfahren ausgesuchte Juroren regelmäßig nach Dreikönig die Gelegenheit, die Magazine ihrer Wortgeschütze politisch korrekt nachzuladen.

Die "Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres", deren Mitglieder man zwar kennt, nicht aber den Weg ihrer Berufung in dieses sich selbst beauftragende (und wohl in Darmstadt ansässige) Gremium, wartet dieses Jahr erwartungsgemäß mit dem Unwort "Volksverräter" auf. Hebt die Stinkefinger hoch, und bekämpft sie zusammen... (bis auf den bösen Finger Text der Werder-Hymne). Ja, auch diesmal wieder (Unwort des Vorjahres war - wie schon 2011 - "Gutmensch", 2014 hieß es "Lügenpresse") ging es darum, der demokratiefeindlichen Sprachverwilderung zu wehren, indem "die Grenzen des öffentlich Sagbaren in unserer Gesellschaft" angemahnt sowie "für mehr Achtsamkeit im öffentlichen Umgang miteinander" plädiert wurde (Pressemitteilung). Das klingt ehrenwert, aber irgendwie auch unfassbar abgehoben. Denn hier entrüstet man sich gern über die Anfänge drohenden Unheils im Geistigen, während das Erschrecken über das Unheil im Faktischen sich in Grenzen hält.

Lügt denn die Presse etwa nicht? Tut sie doch. Und das in einem Ausmaß, dass nicht mehr - wie üblich - von Einzelfällen gesprochen werden kann! Das behaupten nicht nur ein paar "Abgehängte" bei Pegida-Märschen oder bei "Querdenker- und "Klagemauer-TV". Wie Insider-Berichte aus Redaktionen und Sendeanstalten immer wieder bestätigen, sind Helden der Zivilcourage dort ungefähr so häufig anzutreffen wie die "Stiftung Warentest" in PR-Agenturen. Dafür gibt es dort etliche Journalisten mit anrüchigen Nebenjobs. Schleichwerbung und Korruption blühen. Sie sind so verbreitet, dass der Berliner Tagesspiegel die Entrüstung darüber für "scheinheilig" hielt und ihre Legalisierung forderte. Sichtbar wird allerdings immer nur die Spitze des Eisbergs, wenn mal wieder ein "schwarzes Schaf" den Hals nicht voll gekriegt hat wie de Fischer sin Fru. Die Arrivierten des Journalistengewerbes dagegen geben sich stets maßvoll und ausgewogen, haben von all den bösen Umtrieben im Zweifelsfall nie was gehört oder gesehen. Das ist so ganz im Sinne der Mimosen-Schützer von der sprachkritischen Aktion. Und warum die Hand beißen, die einen füttert?

Andere Frage: Verraten die Politiker "das Volk" nicht immer wieder auf's Neue, indem sie den Interessen der Reichen und den Einflüsterungen der Lobbyisten folgen und damit sowohl dem Gemeinwohl als auch vor allem dem unteren Drittel der Gesellschaft massiv schaden? Wer hätte nicht noch das Statement des "dicken Siggi" zum Thema "reiches und hysterisches Deutschland" im Ohr oder die Hetze gegen angebliche Sozialbetrüger seitens im postpolitischen Leben verdächtig gut versorgter Genossen der Bosse wie Schröder, Steinbrück oder Wolfgang Clement, teilweise auch als Freunde des elitären Stinkefingers, wegen zahlreicher Aufsichtsratsposten in allen Bereichen der Wirtschaft (einschließlich Zeitarbeitsbranche) oder wegen zügelloser Angriffe auf Journalisten berüchtigt. Dass Arme nicht mehr zur Wahl gehen, weil die Gesetzgebung überwiegend die Interessen der Reichen und Einflussreichen berücksichtigt (siehe das Forschungsprojekt der Universität Osnabrück: "Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015"), lässt sich ebensowenig bestreiten wie der Ausverkauf der DDR zu Lasten ihrer Bürger durch die Treuhand. Und jetzt dürfen die Betrogenen, Entrechteten und Verarschten nicht einmal mehr ihre ohnmächtige Wut herausschreien und sollen sich mäßigen?

Nur der guten Ordnung halber: Der Begriff "Sozialbetrüger" wurde von der politischen Elite geprägt und von der Lügenpresse servil aufgegriffen, Jahrzehnte bevor die Volkswut sich bei den zentralen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit mit Volksverräter-Rufen Bahn brach. Das war sicherlich nicht die feine Art. Aber warum kann man sich so empathisch in die Gemütslage der angepöbelten Politprominenz einfühlen, nicht aber in die der Pöbelnden, für die der Aufmarsch der Vereinigungsgewinnler mit Gauck und Merkel an der Spitze die pure Provokation gewesen sein dürfte? Welchen Grund sollten die Verlierer von Wiedervereinigung und Hartz-IV-Reformen wohl haben, sich dem feierlichen Anlass entsprechend vornehm zurückzuhalten? Der "Vereinigungsmichel" hat nach wie vor zwei höchst unterschiedliche Gesichter. Vor allem wer im Osten formal wenig gebildet, arbeitslos oder auf einem unsicheren Arbeitsplatz sowie ökonomisch depriviert ist, sieht die Deutsche Einheit äußerst kritisch. Das kann nur derjenige verkennen, der auf die eigene Schönfärberei hereingefallen ist bzw. dessen privates Wohlergehen ihm den Blick auf die soziale Lage des unteren Drittels der Gesellschaft vernebelt.

Und geht etwa die so leicht kränkbare Politikerkaste mit "dem Volk" oder ihren journalistischen Kritikern so "achtsam" um, wie dies uns von sensibel sesselpupenden Geisteswissenschaftlern für den "öffentlichen Umgang miteinander" anempfohlen wird? Aus einem Beitrag des Deutschlandfunks stammt folgende Passage:

Franz-Josef Strauß beschimpfte Journalisten als "jaulende Hofhunde", Helmut Schmidt als "Wegelagerer", Kanzler Kohl stempelte sie zu Gesinnungsjournalisten, Otto Graf Lambsdorff sprach von "journalistischen Todesschwadronen", Oskar Lafontaine von "Schweinejournalismus" und der ehemalige Außenminister Joschka Fischer von "Fünf-Mark-Nutten".

Wer benennt statt des Unworts endlich einmal die (politische) Untat des Jahres? Ich hätte da gleich mal einen Favoriten: Die Zensur des jüngsten Entwurfs zum Armuts- und Reichtums-Bericht der Sozialministerin Andrea Nahles, bekannt auch durch die gelungene Entschärfung eines Gesetzentwurfes gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen sowie ihren erkenntnistheoretisch- musikalischen Beitrag zum Thema: "Ich mach' mir die Welt, widewidewie sie mir gefällt!"

Nicht weit von Darmstadt entfernt, im ebenfalls hessischen Wiesbaden, erkieste die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) parallel das Wort des Jahres. The Winner 2016 is: "postfaktisch". Eine gute Wahl, kann der Sinngehalt des Adjektivs doch den Sprachgebrauch all jener rechtfertigen, die - Achtsamkeit hin oder her - für 2017 den guten Vorsatz gefasst haben, die Dinge auch weiterhin beim Namen zu nennen und das Unwort des Jahres nach wie vor genussvoll im Munde zu führen. Denn postfaktisch ist ja nicht nur das pseudologische Geschwätz eines gewissen Immobilienmilliardärs mit politischen Ambitionen. Postfaktisch ist auch die alltägliche Beschwichtigungsrhetorik, die uns einzureden versucht, dass wir in einer falschen Welt leben, wenn wir sie nicht so wahrnehmen, wie man sie uns zu verkaufen versucht. Der Krieg der Reichen gegen die Armen ist ganz wesentlich ein Krieg um die Deutungshoheit der politischen und sozialen Wirklichkeit. Und in diesem Krieg gibt es Kombattanten, die aus Naivität oder gnadenloser Rechthaberei immer auf der falschen Seite Partei ergreifen und immer den falschen Feind bekämpfen, ohne - wie Frank Schirrmacher in seinen letzten Lebensjahren - zu der selbstkritischen Einsicht zu gelangen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben. Das ist eben eine Frage der Intelligenz. Und kluge Menschen kennen keine "verbotenen Begriffe", mit denen man nicht nur regulierend in die Sprache, sondern auch in das Denken eingreift, wie Dankwart Guratzsch zutreffend schreibt. Kein Wunder auch, dass die Darmstädter Sprachpolizei mit ihrer Unwort-Kür mal wieder den Nachweis unzureichender Sprachkenntnis erbracht hat. Das Urheberrecht für den politischen Kampfbegriff "Volksverräter" liegt weder bei den Nazis noch anderen Diktaturen oder Diktaturverehrern, sondern wurde in der Paulskirche einst einem politischen Reaktionär entgegen geschleudert. Anno 1849, von dem bekennenden Marxisten Wilhelm Wolff.

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