Zeugnisfrust: Du bist nicht deine Schulnoten

Schulprotest | Pünktlich zum Ende des Schulhalbjahrs sorgt eine Internet-Kampagne für Aufsehen, die notenfrustrierte SchülerInnen zum organisierten Rauchen ihrer Zeugnisse auffordert.

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So ganz neu sind radikale Protestaktionen gegen unser Schulwesen ja nicht. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts forderten jugendbewegte "Reformpädagogen", sehr häufig frühere Schulversager aus der Oberschicht, massiv eine Humanisierung des Lernbetriebs ein. Insbesondere in den sog. "Landerziehungs- heimen" wollte man dem staatlichen "Berechtigungswesen" und der angeblich "seelenmordenden" und lebensfernen "Buchschule" trotzen, indem man "den ganzen Menschen" in den Blick nahm und ein "Lernen mit Kopf, Herz und Hand" (Hermann Lietz) propagierte. "Der Glaube an die Unentbehrlichkeit des Berechtigungswesens", schrieb Otto Erdmann, der erste Unterrichtsleiter der Odenwaldschule und Schöpfer des 1913 dort eingeführten Kurssystems für alle Jahrgänge, "ist ein Gespensterglaube. Ist es schon nötig, Zeugnisse auszustellen, so möge man bescheinigen, dass der Zögling die und die Kurse mit Erfolg besucht hat."

Schulfrust-Proteste gab's schon häufiger

Dass aus der pädagogischen Revolution nichts wurde, ist allgemein bekannt. Stattdessen ging die Reise nach 1933 stramm in Richtung "Schule der Nation" (sprich: Wehrmacht), was weit in die Aufbaujahre der Bundesrepublik hineinwirkte (vgl. Ludwig Erhards "formierte Gesellschaft"). Fast unvermeidlich daher der antiautoritäre Aufbruch der 1968er und in seinem Windschatten der sog. "Schüler-, Lehrlings- und Jugendzentrums-Bewegung". Anfang der 1970er Jahre stiftete die Band "Ton Steine Scherben" mit ihrem Song "Macht kaputt, was euch kaputt macht" frustrierte Aussteiger und Verweigerer zur Randale an. Und ein Jahrzehnt später hieß es: "Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!". Mit diesem beliebten Autonomen-Spruch auf den Lippen, lieferte sich die Hausbesetzer-Szene verschiedener Großstädte Straßenschlachten mit den uniformierten Ordnungshütern.

Unter dem Motto "Du bist nicht deine Schulnoten" wird nun seit einigen Wochen im Internet ein Aufruf verbreitet, der Schülerinnen und Schüler mit schlechten Zeugnissen in Wort und Bild dazu anleitet, Zeugnisformulare zu "Tüten" aufzurollen, anzustecken und den Rauch zu inhalieren. Das klingt zunächst einmal eher ungesund als aufrührerisch. Und die zusätzlich angedrohte Retourkutsche, Lehrer und Eltern durch Vergabe von Zensuren für Aufmerksamkeit, Ermutigung und Fairness zu düpieren, wirkt angesichts von "Schulradar" und "Spickmich" jetzt auch nicht gerade beängstigend innovativ .

Keine "revolutionäre Situation"

Überhaupt hat man im Gegensatz zu früheren Protestbewe-gungen nicht den Eindruck, dass sich da unter dem Druck der Verhältnisse eine allgemeine Aufbruchsstimmung und hieraus wiederum eine breite Massenbewegung formiert. Der "Zeitgeist" weist eher in eine andere Richtung. "Generation Biedermeier" nannte eine Jugendstudie aus dem Jahr 2010 die Schüler und Studenten von heute. "Panische Absturzangst, massiver Anpassungswille sowie Verachtung für alle, die abgerutscht sind", attestierte das Kölner Marktforschungsinstitut "Rheingold" den mit Hilfe psychologischer Interviews ausgeforschten 18- bis 24-Jährigen.

Deutschlands Jugend sei - trotz gerade erst überstandener Wirtschaftskrise - optimistisch, meinten auch die Verfasser der im selben Jahr publizierten Shell-Jugendstudie. Sie blicke zu 59 Prozent zuversichtlich in die Zukunft, was ein Plus von neun Prozentpunkten gegenüber 2006 bedeute. Nur bei den Abgehängten sei ein "Frustschub" zu konstatieren.

Eine "revolutionäre Situation" scheint tatsächlich weit und breit nicht in Sicht zu sein. Die Reformpädagogen der Landerziehungsheimbewegung konnten sich noch gegen ein extrem selektives Gymnasium abgrenzen und zugleich wirtschaftlich davon profitieren, dass es so manchem Schulversager aus reichem Haus beim Klassenerhalt im Wege stand. Nur etwa ein Prozent eines Altersjahrgangs legte um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Abitur ab. Hatten Gymnasien und Universitäten zu großen Zulauf, sorgten restiktive staatliche Maßnahmen für eine Eindämmung der "Studierwut der unteren Stände" und damit für ein Gleichgewicht zwischen der Zahl der höher Gebildeten und den freien Stellen für Akademiker. Denn entstand hier ein Missverhältnis, befürchtete man gesellschaftliche Unruhen, weil minderbemittelte Hochschulabgänger, die keine adäquate Beschäftigung und damit kein Auskommen fanden, auf die Straße gingen oder - noch schlimmer - gar in den Journalismus drängten.

Heute macht laut Bundesbildungsbericht aus dem Jahr 2012 jede(r) Dritte Abitur - trotz 8-jährigem "Turbo-Gymnasium" und auf Länderebene zentralisierter Aufgabenstellung. Statt zu hoher Anforderungen wird ein Verfall des Abiturniveaus beklagt. "Schafft doch gleich die Noten ab!" erregte sich bereits 2004 der Publizist Rudolf Maresch. Ein Leserkommentar auf Focus Online von 2013 geht noch einen Schritt weiter. Dort heißt es:

"Schafft doch gleich die Schule ab! Oder schafft die Noten ab, schafft diese vermaledeiten Zensuren ab, damit auch der faulste und dümmste Schüler sein Abi schafft. Oder legt das Abitur der Geburtsurkunde gleich bei. Ich persönlich finde das derzeitige Bildungssystem eh zu lasch, denn das was auf der Uni studiert, das sollte etwas hartgesottener sein. Man sollte den Unterricht so regeln, dass im Laufe der Jahre die Spreu vom Weizen getrennt wird."

Eine "Generation Weichei" - verweichlicht, verzogen, disziplinlos - versuchte denn auch Wieland Backes im SWR-Nachtcafe 2011 als neue Problemgruppe zu identifizieren und schloss die - natürlich im Originalton wesentlich verbindlicher formulierte - Frage an, ob dem jugendlichen Hedonistengesindel nicht dringend wieder Zucht und Ordnung beigebracht werden müssten. Die These stieß bei den Gästen der Sendung jedoch auf wenig Gegenliebe - außer bei dem ehemaligen Leiter des Landerziehungsheims "Schule Schloss Salem", Bernhard Bueb, und bei einer als Tigermutter verkleideten "FasTracKids"-Lobbyistin . Und beim zweiten Aufguss desselben Themas unter dem Titel "Die verhätschelte Generation" im Dezember 2013 sah sich Backes mit derart taffen und erfolgsorientierten Youngstern konfrontiert, dass er noch vor laufender Kamera laut über die Berechtigung des Sendungstitels nachdachte.

Die Ankündigung der erwähnten Protest-Seite www.unschulbar.net, die da lautet:

"Wir werden aus Protest gegen das Schulsystem in ganz Deutschland öffentlich Schulzeugnisse rauchen!"

deutet nicht gerade auf eine drohende Mobilisierung der Massen gegen die Missstände des Bildungssystems hin, auch wenn die Initiative laut SPIEGEL nach einer behördlich brav angemeldeten Auftaktveranstaltung am 21. März vor dem Brandenburger Tor "mit einem Bus durch Deutschland fahren, bei 16 Kundgebungen in allen Bundesländern Flyer verteilen und zum Schulzeugnisse anzünden animieren" will. Von daher erscheint der Appell von Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsminister Mathias Brodkorb (SPD), die Eltern sollten präventive Maßnahmen gegen "diesen Unsinn" ergreifen, eigentlich übertrieben dünnhäutig.

Noch feinnerviger wirkt allerdings der "besorgte[r] Berliner Vater", den der SPIEGEL als Kopf der "Rauch-dein-Zeugnis"-Aktion enttarnt haben will. "George Papa", so das angebliche Pseudonym des Mannes, habe als Hauptmotiv seiner Aktivitäten im Telefongespräch die Sorge um das Wohl seines bald schulpflichtigen Ältesten genannt. In einer ergänzenden schriftlichen Begründung lehne er die Schule pauschal ab, weil sie nur dazu diene, "funktionierende Arbeiter und Angestellte" zu erzeugen und junge Menschen zu Opfern einer "ausbeuterischen, egozentrischen, geldsüchtigen und gierigen Gesellschaft" zu machen.

Wirre Motive

Egozentrisch erscheint es allerdings auch, zwecks Bewältigung der Einschulungspanik eines Einzelnen oder zugunsten billiger Solidarisierungseffekte Ressentiments gegen den geregelten Schulbesuch zu schüren und so Kinder und Jugendliche für Ziele zu instrumentalisieren, die kaum ihren Interessen entsprechen dürften. Das Schulverweigerer-Problem hält Schulverwaltungen, Sozialbehörden und Polizei bereits zur Genüge in Atem. Hinter der Schulvermeidung stehen oft gravierende psychische Störungen der Delinquenten. Da ist es wohl kaum hilfreich, den Bildungsflüchtigen mit wirren Angriffen auf ein angeblich inadäquates und weltfernes Schulsystem abstrakte Tarnmotive in den Mund zu legen.

Es mag ja sein, dass Schüler, die den schulischen Anforderungen nicht entsprechen, in dieser Gesellschaft zu Verlierern abgestempelt werden. Es fragt sich allerdings, ob sich hiervon die zweingende Notwendigkeit ableiten lässt, Zeugnisse anzuzünden und die Schule abzubrechen, letzteres mit der abstrusen Begründung, dass "Abbrecher [...] oft sehr schlaue und leidenschaftliche, begabte Menschen" seien. Das klingt ähnlich verdreht wie der Rückschluss von Eltern verhaltensgestörter Kinder auf eine angebliche Hochbegabung ihres Nachwuchses, der damit gerechtfertigt wird, dass Hochbegabte bekanntlich in der Schule oft auffällig seien.

In unserem Land gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Selbst verwirrte Menschen dürfen öffentlich artikulieren, was in ihnen vorgeht. Aber angesichts derart massiver Verstöße gegen die allgemeinen Denkgesetze müssen doch die Alarmglocken klingeln. Irgendwo hört der Spaß auch mal auf und es ist eine klare Gegenposition gefordert.

Es sterben alljährlich viele Menschen im Straßenverkehr. Aber deshalb rauche ich nicht vor dem Brandenburger Tor meinen Führerschein. Ich stelle auch nicht deswegen die Nahrungsaufnahme ein, weil die geldgierige Lebensmittelindustrie überall minderwertige Ersatzstoffe hineinmogelt oder Pferd drin ist, wo Rind draufsteht. Und obwohl Geisteskranke tatsächlich oft sehr große künstlerische Fähigkeiten besitzen, möchte ich mich nicht aus der Normalo-Welt verabschieden, nur um mein musisches Talent zu entfalten .

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