Aufbruch ins Ungefähre

Außenpolitik Sigmar Gabriel will, dass Europa Lücken füllt, die die USA in der Welt hinterlassen
Ausgabe 50/2017
Am europäischen Wesen soll die Welt genesen? Vordenken sieht anders aus
Am europäischen Wesen soll die Welt genesen? Vordenken sieht anders aus

Foto: Imago

Er hat seine Bestimmung gefunden – als Außenminister will Sigmar Gabriel die Große Koalition fortsetzen, um nicht nur geschäftsführend amtieren zu können. Diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre der programmatischen Rede, die er Anfang Dezember vor dem Berliner Forum Außenpolitik gehalten hat.

Gabriel redet nicht wie ein Diplomat, sondern wie ein machtbewusster Stratege, der deutsche beziehungsweise europäische Interessen zur Richtschnur seiner Argumentation macht. Für einen Sozialdemokraten ungewöhnlich ist der Ansatz, nicht idealistische Vorstellungen von einer besseren Welt zur Maxime des Handelns zu machen, sondern von einer realistischen Sicht auszugehen.

Doppelter Paradigmenwechsel

Gabriels Feststellung, dass sich die Welt im Umbruch befindet, ist unstrittig. Einerseits immer neue Herausforderungen – Klimawandel, Staatszerfall, Migration, Terrorismus, Proliferation von Atomwaffen –, andererseits die Erkenntnis, dass die bisherige internationale Ordnungsmacht USA, die anstelle des nicht vorhandenen Weltstaats für die Bereitstellung der internationalen öffentlichen Güter militärische Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität gesorgt hat, immer weniger in der Lage und seit Antritt der Trump-Administration immer weniger bereit ist, diese Rolle zu spielen. Dies führt dazu, dass neue oder alte Mächte dabei sind, die von den USA hinterlassene Leerstelle zu füllen. Der Fall Syrien ist ein eklatantes Beispiel. Nicht die USA waren der maßgebliche Akteur zur Bearbeitung des Konflikts, sondern die Troika aus Russland, Türkei und Iran, die nicht an einem Kompromiss, sondern an einer militärischen Lösung gearbeitet und nebenbei partikulare Eigeninteressen verfolgt haben. Dafür haben sie wirtschaftliche Sanktionen in Kauf genommen. Ähnliches vollzieht sich in Asien, wo China das Vakuum füllt.

Gabriel konstatiert, dass an die Stelle eines von den USA orchestrierten Multilateralismus, der real eine Weltordnung unter amerikanischer Hegemonie war, der neue Nationalismus tritt. Nur Europa vermisst Gabriel als Akteur, der bereit ist, die Lücke zu füllen. Schließlich, das unterschlägt er, war es sehr bequem, den USA die Kosten für die außenpolitische „Drecksarbeit“ zu überlassen und stattdessen Sozialpolitik zu betreiben. Das Projekt der europäischen Einigung war nach innen gerichtet und nur möglich, weil es unter dem Schutz des amerikanischen Freundes gestanden hat.

Gabriel fordert deshalb einen doppelten Paradigmenwechsel. Die deutsche Außenpolitik soll sich in Zukunft nicht am Bemühen um eine bessere Welt orientieren, sondern im deutschen Interesse an den Sachzwängen einer gewandelten Weltlage. Da aber Deutschland als Handelsmacht und vor allem als Militärmacht dafür allein viel zu schwach ist, geht das nur im europäischen Verbund. Dieses Argument liefert den Hintergrund für den auch von Martin Schulz propagierten Neustart für Europa, der bei Gabriel dessen Positionierung als außenpolitischer Akteur meint, auch in Konkurrenz, womöglich gar im Gegensatz zu den USA handelnd. Als aktuelle Felder nennt er die Sanktionen gegen Russland, die nicht im deutschen Interesse sind, die Aufkündigung des Atom-Deals mit Iran und die jüngste Entscheidung Trumps, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, weil beides die Beziehungen zur islamischen Welt beschädigt, mit der Deutschland, nicht nur wegen der Flüchtlingsfrage, pfleglich umzugehen hat.

Auch wenn der Lageanalyse aus realistischer Perspektive zuzustimmen ist, so wird Gabriel unscharf und widersprüchlich, wenn es um deren Konsequenzen geht. Ausgeblendet wird, dass Europa weit davon entfernt ist, als kollektiver Akteur aufzutreten, auch wenn die Außenminister eine „Verteidigungsunion“ beschlossen haben. Derzeit geht es angesichts der Heterogenität der Interessenlagen darum, den „Laden“ zusammenzuhalten, nicht um neue Projekte. Gabriel weist zwar darauf hin, dass Deutschland am meisten von der EU profitiert und fordert, dass es mehr in die EU „investieren“ solle. Was mit diesen Investitionen gemeint ist, bleibt allerdings vage. Meint er die Aufrüstung der Bundeswehr zur Wahrnehmung geopolitischer oder wirtschaftlicher Interessen im europäischen Verbund? Das bedarf nicht nur einer Änderung des Grundgesetzes, sondern einer radikalen Aufstockung des Verteidigungshaushalts. Seit Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Bundeswehr auf Verschleiß gefahren. Deshalb sind viele Waffensysteme nicht mehr einsatzfähig. Selbst die humanitär begründeten Auslandseinsätze waren nur mit Mühe zu stemmen. Neue Aufrüstung verlangt nach einer von drei unpopulären Alternativen: Schulden, Steuererhöhungen oder Einsparungen im Sozialhaushalt. Letzteren will die SPD ja eigentlich gerade ausbauen.

Widersprüchlich ist Gabriel, weil er seine realistische Linie verlässt. Die EU ist auch im Verbund weit davon entfernt, wie die USA für die internationalen öffentlichen Güter zu sorgen, an denen die Europäer kostenlos partizipieren, etwa GPS, Internet, Drohnenkrieg gegen Terrorismus, Garantie der Ölversorgung durch Flugzeugträger, Dollar als Weltgeld, safe haven für Kapital und als letzter Kreditgeber. Wenn jemand in absehbarer Zeit die USA ersetzen kann, dann ist das ab etwa 2030 China. China punktet zwar mit Lippenbekenntnissen zu einer liberalen Weltwirtschaft, hat aber de facto andere ordnungspolitische Vorstellungen. Deren Konturen zeichnen sich ab mit der neuen maritimen und kontinentalen Seidenstraße (der Freitag 37/2017). Sie ist nicht, wie Gabriel andeutet, eine nostalgische Reminiszenz an Marco Polo, als die Italiener den Fernhandel organisierten, sondern die Restauration des chinesischen Tributsystems, das in der frühen Ming-Zeit Anfang des 16. Jahrhunderts seine größte Ausdehnung erreichte, als die Flotten des Admirals Zheng He die Weltmeere befuhren. Es geht um eine auf China zentrierte, bürokratisch organisierte Weltwirtschaftsordnung. China nimmt nicht nur viel Geld in die Hand, um auf den asiatischen, afrikanischen und europäischen Stationen Infrastrukturprojekte zu finanzieren, es ist auch im Begriff, durch Flugzeugträger, künstliche Inseln im Südchinesischen Meer und Militärbasen in Übersee für die Sicherheit auf den Routen zu sorgen. Es demonstriert zudem, dass wirtschaftliche Entwicklung auch anders als nach liberalem Muster möglich und so attraktiv ist für despotische Regime.

Deshalb lautet die Konsequenz aus Gabriels Diagnose, nicht gegen, sondern im Verbund mit den USA für die internationalen öffentlichen Güter zu sorgen, weil auch das westliche Wertesystem zur Disposition steht. Investieren heißt in diesem Sinne Aufgabe des Freeridertums gegenüber den USA und stattdessen Lastenteilung auf allen Feldern. Selbst so ein Paradigmenwechsel ist schmerzhaft genug und innenpolitisch nur schwer zu legitimieren.

Ulrich Menzel war bis 2015 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig und hat zuletzt Die Ordnung der Welt (Suhrkamp 2015) veröffentlicht

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