Ermittlungen aus der Provinz

MEDIENTAGEBUCH 30 Jahre Tatort

Anfangs", sagt der ehemalige WDR-Fernsehspielchef Gunter Witte in der Eineinhalbstunden-Dokumentation zum Tatort-Jubiläum, "anfangs dachten wir, wenn der Tatort zwei Jahre durchsteht, sind wir gut". Ständig wechselnde Kommissare und Orte, dazu noch das Kuddelmuddel der acht Fernsehanstalten - das verstieß gegen jede Serienregel. Nun sind 30 Jahre vorbei, die Zeitungen sind voll, die Geburtstagstiraden reißen nicht ab. Wann hat eine Serie schon einmal so viel Wind gemacht! Warum also ist der Tatort nicht verschwunden, sondern mehr denn je "Kult"? Die Dokumentation findet darauf keine besonders überzeugende Antwort. Sie lobt ihre Stars und die eigenwilligen Figuren, dokumentiert legendäre Streitigkeiten, zeigt schöne Highlights, erzählt von der schwierigen Wahl der Doppelgespanne. Sie führt tausend Stereotypen vor - Begrüßung bei der Leiche, Anweisungen an die Spurensicherung, die ewige Dienstbereitschaft, der einsame bindungsunfähige Wolf - und zeigt, wie man sie durchbricht. Das ist amüsant. Aber was den Tatort vor anderen Krimi-Serien auszeichnet, dem Alten, dem Fahnder oder einer international viel erfolgreicheren Serie wie Derrick, darauf bleibt die Dokumentation ihre Antwort schuldig.

Es gibt Tatort-Folgen, die sich weit über das Normalmaß der Fernsehproduktionen erheben. Dazu gehören Wolfgang Petersens legendäre Reifeprüfung mit der 15-jährigen Nastassja Kinski und Samuel Fullers Tote Taube in der Beethovenstraße, der in Pariser Off-Kinos Kult ist. Beides sind Beispiele für herausragende Einzelleistungen, die das Geheimnis des Serienerfolgs jedoch nicht lüften.

Auf eine plausiblere Fährte führt ein Petersen-Film, den ich als Heranwachsender gesehen und nie vergessen habe: Nebelschwaden liegen über der Marsch. An den Bäumen hängen die letzten nassen Blätter. Ein Entflohener rennt über den Deich, entkommt den Hunden, versteckt sich in einem verlassenen Haus. Mitten auf dem Land im nahen Dorf nimmt Kommissar Finke (Dietrich Schwarzkopf) Quartier. Langsam entrollt sich ein sagenhaft spannender Politplot, der in seiner Einfachheit nie so unter die Haut gegangen wäre: ohne das verstockte Dorf, die spröde Mentalität und die graue ostfriesische Novemberlandschaft.

Hier wie in vielen der besseren Folgen wurde der Tatort zu einer zeitgemäßen Auslegung des Heimatfilms. Felix Huby, der für den WDR und den SDR Dutzende Tatort-Drehbücher schrieb, wusste das. Sein Kommissar Bienzle ist unterwegs zufälliger Gast in einer Backstube. "Ond was machet Sie?" wird er gefragt. "I bin bei dr Polizei". "S'macht fuffzig Pfennig", sagt der Bäcker abgekühlt. So spiegelt sich in einem Satz eine ganze Region.

Selbst wo ein zugereister Egomane wie Manfred Krug alles Lokalkolorit zudeckt, sind noch ganze Anatomien des örtlichen Alltagslebens sichtbar. Oft musste sich der sture Macho Stöver nolens volens, also besonders effektvoll, an den Ausländerproblemen reiben. So entstanden realistische Einblicke, etwa in türkisches Anderssein, die Interesse weckten, statt unter Sorgendeckeln zu ängstigen. Das Thema ist besonders aus den Großstadtfolgen nicht wegzudenken, wie man überhaupt im Lauf der fast 450 Folgen die Urbanisierung der Provinz mitverfolgen konnte. Etwa die Yuppies Batic und Leitmayr: Im preisgekrönten Film über den Ehehandel, der in Wirklichkeit nicht Frauen, sondern ihre kleinen Mädchen vermittelt, müssen sie die schier unüberwindliche Hürde nehmen, in den emotional abgetöteten Erinnerungsraum einer zur Mörderin gewordenen Mutter und ihrer kleinen Tochter einzudringen. Die Frage nach einer Bilderbuchfigur ist es dann, welches das Gesicht des verstummten Mädchen aufblühen lässt: "Frau Bu lacht".

Durch die Beteiligung von acht deutschsprachigen Fernsehanstalten wuchs naturgemäß die Konkurrenz ums Regionenbild, mal kritischer, mal selbstironisch, kaum einmal beschönigend und selten ins Karikaturhafte abgleitend. Der Tatort ist dadurch zu so etwas wie dem einheitlichen Ausdruck des disparaten deutsch(sprachig)en Kulturraums in der Vielfalt seiner Stimmen geworden. Die Kommissare sind Botschafter ihrer Region, der saarländische Bonvivant Palu, das Proletenkind Schimanski, der Gemütsmensch Ehrlicher, der Urbayer Veigl, der ruppige Leitmayr, selbst der grantige Kroate Batic und, ex negativo, die reingeschmeckte Odenthal. Und wie die Jubiläumsdoppelfolge wieder zeigte, sind sie es erst einmal auf ihre je ureigene Weise. Begegnen sie sich, trifft Vorurteil auf Vorurteil, steht Erfahrung gegen Erfahrung. Mühsam ist der Weg zum gemeinsamen Prinzip, im Mordfall den Erfolg zu suchen.

Kultisch verehrt wird auch das 30 Jahre alte gemeinsame Erkennungszeichen: der Jazz, die Augen und das Fadenkreuz. Schon die allererste Tatortfolge (Taxi nach Leipzig, 1970) war gewissermaßen gesamtdeutsch. Weil sich NDR und MDR den Osten zu grob aufgeteilt haben, sind auf der Kartographie der föderierten Mordrepublik heute weiße Flecken. Es fehlt der totgehetzte Schwarzafrikaner in der brandenburgischen Grenzstadt, der Ex-Minister, der für sein Ostseegrundstück über Leichen geht. Wo ist der ermordete Leuna-Ingenieur, der zu tief in den Aktenschrank geschaut hat, wo liegt die Leiche im Braunkohleschutt, bevor Millionen Kubikmeter Wasser darübergeflutet sind: unentdeckte Schauplätze, brisante Geschichten, die dazu gehören.

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