Na, wenn das kein Statement ist: „Lilyhammer“, sagt der New Yorker Mafioso Frank Tagliano, als ihn ein Mitarbeiter des FBI fragt, welche neue Heimat er sich für seine Zeit im Zeugenschutzprogramm wünscht. Lilyhammer? Ja, Lillehammer, Norwegen. 29.000 Einwohner, tiefste Provinz. Tagliano hat noch Fernsehbilder der Olympischen Winterspiele 1994 vor Augen, er fand alles so klar und weiß und sauber. Und weil Frank, dargestellt von Steven Van Zandt (bekannt als Consigliere Silvio in Die Sopranos), nach ein paar Mordanschlägen die Nase voll hat von New York, fängt er neu an in Norwegen. Mit Schnee und Wölfen und der Polizeichefin als Nachbarin. Was, klar, bald für Komik und Komplikationen sorgen wird.
Lilyhammer wird im Free-TV demnächst bei art
st bei arte zu sehen sein, die DVD-Box ist soeben in den Handel gekommen. Erstaunlich: Diese feine, kleine, bissige Serie, nicht House of Cards, war die erste Produktion des amerikanischen Streamingdienstes Netflix, hergestellt in Kooperation mit einem öffentlich-rechtlichen norwegischen Sender. Eine Provinzproduktion, gewissermaßen. Netflix ist allerdings das Unternehmen, von dem man annimmt, dass es in den kommenden Jahren den Medien- und insbesondere den Fernsehmarkt revolutionieren wird – durch die Herstellung eigener Serien auf höchstem Niveau, die dann auf einen Schlag im Netz zur Verfügung stehen. Dass dieser, nun ja, historische Prozess mit einer Provinzgeschichte im doppelten Sinn beginnt, auch das ist ein Statement.Natürlich wissen die von Netflix genau, was sie tun. Im Gegensatz zum Fernsehen sind sie bei der Stoffgenerierung nicht auf ungenaue Quotenmessdaten und Bauchgefühle amtsmüder Redakteure angewiesen, sie sind mit digitaler Hilfe ganz nah dran am Kunden, und vermutlich wird ein schlauer Algorithmus das magische Wort geflüstert haben: Provinz! Okay, man kann auch so draufkommen, schließlich waren zwei der wichtigsten Serien der letzten Jahre – Lost und The Walking Dead – vom Element der Stadtflucht entscheidend geprägt. Aber es ist schon auffällig, dass derzeit die interessantesten Neustarts aufs Land entführen und in ihrer Dramaturgie ganz maßgeblich davon zehren.Von True Detective sagen selbst eingefleischte Anhänger originalsprachlichen Filmkonsums, man brauche zumindest die Untertitel, weil Matthew McConaughey und Woody Harrelson derart im Slang von Louisiana nuscheln. In der HBO-Produktion, die hierzulande im Bezahlfernsehen bei Sky gezeigt wird, geben die beiden ein ungleiches Ermittlerteam, das einem Serienmörder auf der Spur ist. True Detective ist auf zwei Zeitebenen komplex erzählt, selten ist die Beziehungsdynamik zweier Charaktere so nuanciert ausgeleuchtet worden, schon strukturell, und die Serie ist ein Paradebeispiel für Dynamik im Spannungsaufbau durch geschickte Montage. Ganz entscheidend dabei, gewissermaßen als Reflexionsraum: geradezu mystisch anmutende Landschaftsaufnahmen, insbesondere bei endlosen Autofahrten. Hier wagt man – übrigens in Old-School-Manier, mit analogen filmischen Mitteln – den Blick in eine Tiefe, in der die Erklärbarkeit der Welt auf rationale Weise an ihre Grenzen stößt.Getarnt als TrashGenau andersherum verhält es sich bei der französischen Serie The Returned/Les Revenants, die derzeit im Internet bei Watchever zu sehen ist und demnächst wohl ebenfalls bei arte gezeigt wird. In einer Kleinstadt, irgendwo in den Bergen, kehren eines Tages die Toten zurück; nicht als Zombies oder Vampire, sondern als (fast) ganz normale Personen, die lediglich etwas weniger Schlaf brauchen. Eine Erklärung liefert die Produktion von Canal Plus nicht, die „Tatsachen“ stehen für sich. Zugleich hat die Polizei eine Reihe von Morden aufzuklären, die im „Damals“ ebenso gründen, wie sie im „Jetzt“ eine Rolle spielen. So kommt das Krimi-Element in die Geschichte – und damit der Versuch, wenigstens im Kleinen, im Alltäglichen Begründ- und Belastbares, mithin: rational Nachvollziehbares, zu finden. Erstaunlich, wie der Erzähltopos des Untoten neu interpretiert wird, mit dem Motiv der Wiedergeburt; faszinierend, wie elegant ein ganzes Ensemble an Hauptfiguren dirigiert wird; beeindruckend, wie auch hier die Landschaft als dramaturgisches Instrument und Resonanzraum inszeniert wird.Ein Eindruck, der einem immer wieder in den Sinn kommt: Grüße von David Lynch. Twin Peaks, im Übrigen auch eine Serie aus der Provinz, wirkt nach und immer weiter, auch ein Vierteljahrhundert später. Aber noch mehr: Als Trash-Erzählung getarnt, werden in vielen dieser neuen (Provinz-)Serien Antworten auf grundlegende erkenntnis- und existenztheoretische Fragestellungen subtilst durchdekliniert. Dazu kommt die ungeheure Komplexität und Experimentierfreude, man muss sagen, beim Krimi ist das Drehbuch der Literatur derzeit voraus. Die Energie hierfür stammt aus einer Quelle, der Dynamik der Serialität. Das ginge auch in der Literatur, solche Serien würde man glatt lesen.
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