Großräumige Übernahme

Elitenaustausch Arno Hechts Studie über das Schicksal der ostdeutschen Wissenschaftler nach der Wende

Dass die deutsche Wiedervereinigung vom Oktober 1990 eher an einen Prozess der Übernahme, der Aneignung, des Überstülpens, mehr an Kolonisation als an ein friedliches Wiederfinden eines zuvor gewaltsam getrennten Volkes erinnert, ist nach fast 13 Jahren "Einheit" wohl jedem Deutschen mehr oder minder direkt bewusst geworden. Einigen dadurch, dass sie von diesem Vorgang profitierten oder aber auch zur Kasse gebeten wurden. Drastischer ist es denjenigen zu Bewusstsein gekommen, die Opfer eines "strukturellen Kolonialismus" (Fritz Vilmar) geworden sind. Letztere haben kaum Möglichkeiten, nachdem auch die sonst unabhängige Justiz demonstriert hat, dass sie ihnen bei der Beibehaltung oder Wiederbeschaffung ihres Jobs nicht helfen kann oder will, ihre Enttäuschung, ihren Unmut über die Folgen "der Einheit" zu beklagen.

Erstere haben - alles in allem gesehen - sowieso kaum Grund dazu. Denn die meisten von ihnen haben, ebenso wie in der Epoche der klassischen Kolonialzeit von 1884/85 bis 1918/19 die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, mehr oder minder großen Anteil am Gewinn des nur vordergründig dem Steuerzahler Kosten verursachenden Kolonialisierungsprozesses in den Ländern der heutigen Dritten Welt. Und die heutigen "Kolonisierten" selbst? Deren durch die plebiszitären Elemente der Erneuerungen im Herbst ´89 an die Oberfläche gespülten neu-ostdeutschen Politiker, die unter den alten, stalinistischen Verhältnissen ihre persönlichen Ambitionen und Machtansprüche nicht ausleben konnten, sind inzwischen als Gesetzesbrecher angeklagt beziehungsweise verurteilt worden oder mussten auf Grund von nicht widerlegbaren Anschuldigungen über die Zusammenarbeit mit der Stasi ins Glied zurücktreten. Viele haben resigniert oder kämpfen mit den neuen Geistern, die sie riefen, aber bald nicht mehr beherrschen konnten, oder sind - allerdings ist das der geringere Teil - in der Politik verblieben und somit als Sachwalter und Fürsprecher des kleinen Mannes verloren.

Was bleibt der so enttäuschten Masse der ostdeutschen Bevölkerung? Zu jammern oder in die Jobs verheißenden Regionen des "kolonialen Mutterlandes" im Westen Deutschlands abzuwandern? Das können in der Regel nur jüngere Menschen. Der Strom der innerdeutschen Migration von Ost nach West hält an, während nach wie vor die Wissenschaftselite des Westens nach Osten strebt.

Haben die Ossis aber wirklich Grund zu jammern und zu resignieren? In der Mehrheit ja. Wenn auch viele mit der Rente oder ihren Jobs gut auskommen, müssen sie doch mehr oder minder ehrlich jeden Tag erkennen, dass ihre Kinder und Enkel von Arbeitslosigkeit betroffen oder bedroht sind. Von anderen "Segnungen" der neuen Gesellschaft ganz zu schweigen. Eine eigene ostdeutsche Identität hat sich nicht zuletzt deshalb herausgebildet, weil durch die Erfahrungen der Zurücksetzung (ungleiche Bezahlungen und Renten, weniger juristisch einklagbare Rechte seien nur erwähnt) gegenüber den westdeutschen Brüdern und Schwestern eine Trotzhaltung gespeist und gestärkt wird.

Dass auch radikalere Ansichten bis hin zum Rechtsextremismus dadurch Fuß fassen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die ehemalige Funktionselite der DDR weitgehend beseitigt worden ist. Die neue aus "westdeutschen Importen" bestehende Elite wird von der ostdeutschen Bevölkerung kaum angenommen. Insbesondere die Wissenschaftselite aus dem Osten Deutschlands erlebte eine Verdrängung durch ihre aus dem Westen kommenden Kollegen, die noch bei den Kindern der Betroffenen als Exempel für kolonialistisches Verhalten dienen wird. Es fand eine personelle Transformation statt, wie sie die Geschichte bislang selten gesehen hat. Die dafür Verantwortlichen beziehungsweise davon Profitierenden gehen in der Regel mit Arroganz über Kritiken an ihrem Verhalten hinweg. Es könnten also nur Angehörige der ostdeutschen Elite ihre Stimmen erheben, indes es gibt sie kaum noch.

Nur ab und an wird die selbstgerecht auf die Transformation zurückblickende scientific community aufgeschreckt. So kürzlich durch ein Buch des eigentlich als Belletristikverlag bekannten Verlages Faber Faber aus Leipzig. Der präsentierte eine Dokumentation, die durch die autobiographische Sicht auf den Gegenstand überzeugt. In allen Einzelheiten werden darin die Folgen der "Transformation" im Wissenschaftsgefüge der gerade untergegangenen DDR bis hinein in die persönliche oder familiäre Sphären untersucht.

Der Mediziner Arno Hecht, von 1977 bis zu seiner Emeritierung 1993 Professor für Pathologische Anatomie und Direktor des Instituts für Pathologie an der Universität Leipzig, analysiert kritisch den Wissenschaftleraustausch an den ostdeutschen Hochschulen, Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen der neuen Bundesländer sowie Berlins. Dabei beschränkt er sich nicht auf die Untersuchung der medizinischen Wissenschaften, sondern spannt den Bogen bis hin zu den Geistes- und Sozialwissenschaften. Es werden darin zahlreiche Einzelschicksale mit schriftlichen Zeugnissen dokumentiert, die exemplarischen Charakter für den Elitenaustausch in Ostdeutschland aufweisen. Oft waren es Vorgänge, die eigentlich dicht am Rande der Legalität angesiedelt waren. Mit ihnen wurden Wissenschaftler aus der DDR vertrieben, um Platz zu machen für Akademiker aus den alten Bundesländern, die oft genug zweit- oder drittklassig waren. "Unhabilitierte Sitzenbleiber", "frischgebackene Anfänger" und Leute mit "drittklassiger Begabung" nannte Dieter Simon, einer der Hauptverantwortlichen für diesen Kahlschlag in der Wissenschaftslandschaft im Osten Deutschlands, diese Neu-Ostdeutschen. Hinter Zahlen, Statistiken, Vergütungen, Versetzungen, Demütigungen und neuem Aufsteigen beschreibt der Verfasser akribisch Schicksale, die bezeichnende Schlaglichter nicht nur auf den Wissenschaftleraustausch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, sondern auch auf die gegenwärtige deutsche Hochschulpolitik werfen - ein Zeitdokument von besonderer Güte.

Dieses Buch sollte Pflichtlektüre für alle diejenigen werden, die aus zumeist egoistischen und politischen Interessen die ostdeutsche Wissenschaftslandschaft niederstampfen, um für sich oder ihre Schüler die ohnehin seit Jahren reformbedürftige Wissenschaftsstrukturen der alten Bundesrepublik im Osten zu neuem Leben zu erwecken, damit sie die frei werdenden Stellen besetzten konnten.

Arno Hecht hat ein Werk vorgelegt, das künftigen Generationen einen im offiziellen Geschichtsbild der deutschen Vereinigung geschönten Blick unmissverständlich Fakten entgegenzuhalten vermag. Die eine oder andere Argumentation mag dem Verfasser etwas polemisch geraten sein, doch das Buch ist nicht geschrieben worden, um zu klagen, sondern um eine objektive umfassende Darstellung der deutschen Vereinigung später einmal den Historikern zu ermöglichen. Um diese Studie wird kein seriös arbeitender Historiker, der sich mit der "Einheit" Deutschlands befassen will und natürlich mit dem damit verbundenen Transformationsprozess, herumkommen. Sie ist ein Standardwerk und mehr als eine Mentalitätsgeschichte der ostdeutschen Intelligenz, wie der Verlag selbst schreibt.

Arno Hecht: Die Wissenschaftselite Ostdeutschlands. Feindliche Übernahme oder Integration? Verlag Faber Faber Leipzig 2002, 480 S., 29,70 EUR

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