Warlam Schalamow (1907 – 1982) wurde posthum bekannt als Chronist der „Kolyma“, eines stalinistischen Straflagers im Norden Sibiriens, dem er mehrere Zyklen gewidmet hat. Diese zwischen 1954 und 1979 entstandenen Texte sind autobiografisch grundiert, versuchen jedoch auch eine Rundumsicht – die handelnden Personen und damit die Perspektiven wechseln ebenso wie die Jahreszeiten, womit eine Aura der Totalität entsteht. Zwar mag es jeweils einen Anfang der Lagererfahrung geben, aber es gibt keine Entwicklung, keinerlei Ausstieg. Den, der im Lager war, verlässt es nämlich nicht.
Eine Biografie Warlam Schalamows müsste folglich die Gegenerzählung sein. Eine halbwegs linear verlaufende Geschichte, die das konzentrische System der Höllenkreise
lenkreise aufbricht oder als Einschmelzung mittransportiert. Schalamow selbst hat sich als Dichter, wenngleich hauptsächlich in Prosa begriffen, alles Romanhafte lehnte er ab. Er galt als äußerst empfindlich, und wenn er auch keine hohe Meinung von sich selbst besaß, von seinem Werk hatte er sie durchaus.Den eigenen Tod überlebtFranziska Thun-Hohenstein achtet ihren Protagonisten, sie geht sehr vorsichtig mit ihm um. Im Englischen würde man ihr Buch als „meticulously crafted“ bezeichnen, das ist anerkennend für „umständlich“. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, und nicht irgendeine: Die deutsche Werkausgabe von Schalamow verzeichnet sie als Herausgeberin. Aus diesem Grund dokumentiert sie nicht nur akribisch jede Quelle, sondern weigert sich auch, aus Schalamow einen Helden zu machen. Die gängige englische Genrebezeichnung „A life“ hätte sich dieses Buch also nicht verdient. Denn ein Leben ist es nur in Bezug auf das Schreiben gewesen. Das ist, daraus machen weder die Biografin noch ihr Autor ein Hehl, des Lebens einzige Rechtfertigung.Schalamow hat nämlich über den Ort, an dem er sechzehn Jahre zubrachte, festgehalten: „Das Lager an der Kolyma (wie überhaupt jedes Lager) ist eine negative Schule von der ersten bis zur letzten Stunde. Um Mensch zu sein, darf der Mensch das Lager gar nicht kennen und nicht einmal auch nur sehen.“ Aber gerade weil er Künstler ist, meint er, dem Lager etwas entgegenstellen zu können. Der Glaube an die Kunst tritt dabei durchaus als säkularisierte Variante des religiösen Glaubens auf. Die Biografin folgt also letztlich dem Selbstentwurf ihres Gegenstandes.Schalamow stammt aus Wologda und ist der Sohn eines äußerlich liberalen, nach innen aber herrischen Popen, den sein Sohn als „Schamane“ bezeichnen wird. Der Vater war lange in der russisch-orthodoxen Mission in Sibirien eingesetzt, wo er die Anhänger animistischer Stammesreligionen bekehren sollte. Der Faszination des Fremden vermochte er sich nie ganz zu entziehen. Wenn der Sohn wiederholt darauf zurückkommt, so macht er den Vater keinesfalls verächtlich, vielmehr deutet er eine Perspektive seines eigenen Tuns an. Und zwar weil er zwischen Lebenden und Toten umhergeht, die Geister der von Stalin Getöteten in seinen Erzählungen aufleben lässt – und in der Kolyma gewissermaßen seinen eigenen Tod überlebt.Dass er dennoch mit dieser Erfahrung keinen Frieden schließt, sie also nicht in sein Autor-Ich hineinnimmt und dieses als Zeichen einer der Geschichte abgetrotzten Überhöhung vor sich herträgt, hat zweierlei Gründe. Zum einen wäre da ein ethisches Bewusstsein, das tatsächlich das Letzte ist, was Schalamow besitzt. Die Biografin stellt sein rundum gescheitertes privates und gesellschaftliches Leben genauso heraus wie die Absage an Gott oder eine andere höchste metaphysische Größe. Getreu belegt sie aber Schalamows Insistieren auf einer unbeugsamen Moral, gleichsam als Forderung, dass dieser höchste Zurechnungspunkt existiere. Dies aber widerspricht dem Atheismus, auch wenn Schalamow sich selbst entsprechend erklärt. Stattdessen zeigt sich der paradoxe Glaube des Verzweifelten.Der zweite Grund liegt darin, dass die Sowjetunion Schalamow nicht Frieden schließen lässt. Das Lager begleitet ihn, als er nach Moskau übersiedelt. Seine Wohnung wird regelmäßig vom KGB durchsucht, sein Schwager spioniert ihn aus. Besonders beklemmend liest sich das Kapitel über Schalamows letzte Jahre: von den schlichten Wohnverhältnissen über das Altersheim, in dem er zusammengekauert auf dem Bett liegt, die wenigen Habseligkeiten wie in der Kolyma unterm Kopfkissen versteckt, bis hin zum Tod in einer Nervenheilanstalt, in der man ihn bei winterlichen Temperaturen ohne Jacke an einen Stuhl bindet. Es sind die letzten Jahre vor Gorbatschow, vor dem Tauwetter, als Stalinbilder noch im Begräbnisbus mitfahren. Aber es sind auch Jahre intensiver Sorge durch Freunde. Überhaupt berührt in dieser von so viel staatlichem Zwang diktierten Biografie, wie zerbrechlich Verwandtschaft ist und wie beständig Freundschaft gelebt wird.Warlam Schalamows Werk hat nicht zuletzt den Westen gespalten. In Italien gab es in den 1970er Jahren Versuche, seine Texte über das Lager im damals linken Einaudi-Verlag herauszubringen. In Schalamow sah mancher einen Primo Levi des Gulag. Solche Wahrheiten über das Mutterland der kommunistischen Sehnsüchte hielten aber sowohl die kommunistische Partei als auch der beteiligte Fiat-Konzern für kontraproduktiv. Schalamow selbst hingegen fürchtete eine einseitige politische Rezeption seines Werkes. Das Lager war für ihn der Prüfstein für eine neue Literatur, vermutlich gerade deshalb, weil es eine dauernde Erscheinung des Lebens bleiben würde.Ein Hinweis darauf, dass Thun-Hohensteins Buch beklemmend aktuell geblieben sei, erübrigt sich eigentlich. Ob im Zarismus, unter Stalin oder in Putins Straf- und Arbeitslagern: Totale Institutionen, die Personen brechen und im Sinn einer von den Herrschenden vorgestellten Gemeinschaft neu zusammensetzen, gehören in die Geschichte dieses Flächenstaats, der seine Bewohner immer wieder einfangen muss. Was es dagegen braucht, ist eine völlige Perspektivumkehr, eine innere und äußere Dekolonialisierung. Davon zeugen Werk und Leben Warlam Schalamows.Placeholder infobox-1