Als der Schriftsteller und Verleger Roberto Calasso am 28. Juli 80-jährig starb, erschienen zeitgleich seine Erinnerungen: an seine Florentiner Kindheit und an Bobi Bazlen, das Hausgespenst seines Verlags Adelphi. Calasso galt als Italiens esoterischer Großmeister, zugleich als Mailands letzter – verschwiegener – Salonlöwe. Nachrufe in Italien und im Ausland, darunter in Deutschland, wo Calasso in renommierten Häusern vertreten war, bemühten sich um respektvolle Charakterisierungen dieses Büchermenschen, der weder Abhandlungen noch Romane im herkömmlichen Sinn geschrieben hatte. Stattdessen hatte er Mythen weitererzählt und mit einer Kulturtheorie verbunden, in deren Mittelpunkt die Notwendigkeit der Götter stand. Eines seiner letzten Bücher handelte von Gilgamesch, ein anderes folgte der Eifersucht Jahwes im „Buch der Bücher“.
Elias Canettis Wunsch, sich Mythen anzuverwandeln, zu ihrem Hüter zu werden, sie nicht strukturalistisch einzudampfen, teilte Calasso. Deshalb wollten ihn manche in die Gruppe der „Traditionalisten“, Anhänger einer geheimen, weltumspannenden Urreligion, einordnen. Tatsächlich aber war Calasso ein Mythenforscher, weil er ein Erzähler war, und weil er glaubte, dass der Auftritt eines jeden Elements einer Erzählung einer Erscheinung gleichkommen müsse, einem Wunder. Und nichts anderes, so sagt es Calasso selbst in seinen Vorlesungen über die Literatur und die Götter, waren ja die Götter: die Erfahrung der Welt als Überwältigung. Wenn er also an etwas glaubte, dann an die Literatur vor ihrer Sonderung in Gattungen.
Während man jetzt überall Calassos als Schriftsteller gedenkt, der indes weder besonders originell war noch besonders quellenschürfend, dafür begabt mit einer „sprezzatura“, die das Schwere leicht erscheinen ließ, wird schnell der Verleger übergangen. Dabei hat Calasso Anfang der 1960er Jahre in Mailand eine Ausgründung des heute zu Berlusconis Medienimperium gehörenden, damals aber quasistalinistischen Einaudi-Verlags mitbetreut. Geleitet wurde Adelphi (griech., „Verschworene“) von Luciano Foà, dem jungen Kulturhistoriker Calasso – und insgeheim von Bobi Bazlen. Dieser war ein Triestiner Jude, der sämtliche Sprachen des alten K-.u.-k.-Reichs verstand, zeitlebens nie eine Zeile veröffentlichte, aber als Lektor und Bücherscout – das italienische Verlagswesen kennt den schönen Titel des „consulente editoriale“ – unentbehrlich war. Calasso veröffentlichte posthum Bazlens symbolistischen Roman, seine Briefe, und am Tag des eigenen Todes eine Art Biografie des Freundes. Hätte es Bazlen nicht gegeben, so müsste man ihn für Calassos beste Erfindung halten.
Ein Werk ohne Nachfolger
Nach dem Tod seiner Kompagnons führte Calasso den Verlag allein. Er hatte einige Erfolge mit zeitgenössischen ausländischen Autoren, die genauso gut andernorts hätten erscheinen können. Im Prinzip aber schuf er sich eine Bibliothek aus Lieblingsautoren, die er dann in seinen eigenen Schriften gleichsam konzentrierte. Insofern war es nur folgerichtig, dass er auch im eigenen Verlag veröffentlichte, was andere Verlegerautoren (etwa Michael Krüger) für ein Sakrileg hielten. Bei Calasso aber gingen fremde und eigene Texte ineinander über, von Nietzsche (dessen Edition den Grundstock für Adelphi gelegt hatte) über Canetti und Cioran bis zu Somerset Maugham und Anna Maria Ortese. Die Autorin von Neapel liegt nicht am Meer rettete er mit einer Leibrente vor der Depression, sie zahlte es zurück mit der schönsten italienischen Prosa des 20. Jahrhunderts. Das Besondere an Adelphi war, dass dieser Eklektizismus seine Leser fand, die sich zwangsläufig zu einer Art von Doppelgängern Calassos ausbildeten. Und während der Durchschnittsitaliener im August auf den Strandurlaub wartete, warteten Adelphi-Leser auf den nächsten Simenon (auch hier kann man nicht sicher sein, ob der Schöpfer Maigrets nicht am Ende eine Erfindung Calassos ist, so umfangreich wie sich die Bibliografie entwickelte).
In den letzten Jahren schien dem Mann, der über jeden Vorschlag seiner Mitarbeiter entschied, die Quadratur des Kreises zu glücken: Die Theorien der Götter kehrten genauso wie die Vorgeschichte seines Verlages in seine Hände zurück. Selbst Carlo Ginzburg, der Adelphi zuerst skeptisch gegenübergestanden hatte, weil er Spuren eines verhängnisvollen Irrationalismus gewärtigte, historisierte seine Gesamtausgabe in Calassos Haus.
Darf man sich den Verleger als glücklichen Menschen vorstellen? Ja und nein. Calasso war vielleicht der Letzte, der einen Verlag nach seinem Bild und sein Bild nach seinem Verlag formen durfte – zugleich schuf er ein Werk ohne Nachfolger. In den Nachrufen und Erinnerungen kündigt sich schon die große Heimatlosigkeit der italienischen Leser*innen und Intellektuellen an. Der Sieg der Squadra Azzurra bei der Fußball-EM war ein Mannschaftssieg, Calassos Tod aber signiert das Ende eines singulären Verlags, mit dem sich, so seltsam es anmutet, viele identifizierten. Er war ein Spielertrainer. Auch das ist eine metaphysische Koinzidenz.
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