Unter den zahlreichen Pioniertaten Italiens – unter ihnen die Erfindung des Kapitalismus, der Diplomatie oder des Katholizismus – sticht allein der Faschismus als etwas durchweg Verwerfliches heraus. Selbst unter seinen Erben gilt er als „absolutes Böses“ (Gianfranco Fini, letzter Vorsitzender der faschistischen Nachfolgepartei MSI, 1994). Aber in Italien ist man sich auch einig, dass Faschismus nicht vordringlich eine Ideologie ist, sondern ein „stile“, wie es in der nationalen Enzyklopädie Treccani heißt. Rückblickend auf den 2. Weltkrieg – im Fall Italiens auch auf den Bürgerkrieg zwischen Faschisten und politisch äußerst heterogenen Partisanen – wird man allerdings eher an Verbrechen und Trauma denken als an Stilfragen.
Die Ethnologin Lene Faust will es genau wissen: Wie erinnert man sich an den historischen Faschismus? Ihrer Ansicht nach vor allem als ein generationenübergreifendes Band der Sprachlosigkeit. Nicht nur, weil Täter und Nachfahren sich ausschweigen, sondern auch, weil sie im demokratischen Italien zur Sprachlosigkeit gezwungen wurden. Diese Sprachlosigkeit hat ihren Grund zunächst in der verfemten Erfahrung der Faschisten selbst. Mit Mussolinis ehemaligen Anhängern ging man nicht zimperlich um, auch wenn Palmiro Togliatti, Italiens Kommunistenführer, nach dem Krieg sie als fehlgeleitete Antikapitalisten bald einlud, ihr Klassenbewusstsein in seiner Partei zu schärfen. Faschistischen Kämpfern blieb im Wesentlichen eine Kultur der Niederlage, des Rückzugs in Privaträume und Veteranenkreise, der kultivierten Wut in ihrer Partei. Ihre Kinder machten sich an den Aufbau einer Parallelgesellschaft, die in Verlagen, Sommerlagern, aber auch im Rechtsterrorismus der sogenannten bleiernen Jahre kulminierte. Ihre Anschläge galten der antifaschistischen Mehrheitsgesellschaft, gelegentlich unter Beihilfe der Mafia. Die extreme Rechte wurde aber auch selbst Ziel blutiger Angriffe. Die „Faschisten des dritten Jahrtausends“ hingegen reden einem „modernen“ Ethnopluralismus das Wort. Hass und Gewalt gegen Minderheiten sind in Italien eher mit dieser neuen Rechten verknüpft. Ein Grund für die Unauflösbarkeit faschistischer Solidarität liegt darin, dass Italien ein Land der Erbfolge und nicht des Generationenkonflikts ist. Faust untersucht deshalb nicht nur die Reaktion der (Neo-)Faschisten auf ihre Umwelt, sondern das Bild, das die Protagonisten von sich selbst im intimen Rahmen geben. Zu diesem Zweck studiert sie die jeweilige Familienkonstellation, bis in kleinste Gesten hinein.
Kulturelle Schmerzzone
Ethnologen begeben sich in oft jahrelanger teilnehmender Beobachtung in die Schmerzzone anderer Kulturen, wohl wissend, dass sie sich damit auch selbst verändern. In ihren Gesprächsprotokollen und deren Analysen, die den Kern ihres Buches bilden, reflektiert Faust auch, was mit ihr selbst geschieht. Sie wird Zeugin, wie ehemalige Soldaten über sich selbst erschrecken, wie Familien sich entzweien, wie ihre Forschung den Hass derer schürt, die Gefahren für ihre gewohnte Welt gewärtigen. Für die einen soll sie bezeugen, von anderen wird sie bedroht. Unbewältigte Gewalt, die kaum erzählbar ist, verfolgt sie nachts in ihren Träumen.
Man kann in der Fähigkeit zu solcher Nähe zugleich die Schwäche des Buches sehen. Übertragung und Gegenübertragung, die Kultur des Verdrängens, die die faschistische Familie über Generationen prägt und schließlich in der Selbsterfahrung der Forscherin hervortritt: In all diesen Bewegungen manifestiert sich letztlich auch ein Modus, der historischen Wahrheit auszuweichen. Oder besser: diese wird auf ihren Niederschlag im kollektiven Gedächtnis reduziert. Entsprechend endet das Buch mit einem Plädoyer für die „Integration von Toten und Tätern“ in die Gedenkkultur.
Das Buch hilft indes den Blick dafür zu schärfen, dass die extreme Rechte nicht schlicht ein argumentatives oder sozialpolitisches Problem ist. Gäbe es in Deutschland eine angemessene ethnographische Forschung zu diesem Gegenstand, sähe man das vermutlich ähnlich. Faschisten wälzen, in Italien zumindest, kein „Gedankengut“ oder sind sämtlich sozial abgehängt – die geschmackvollen Wohnungen, das feine Essen, das die Autorin beschreibt, deuten eher auf das Gegenteil. Eben auf „stile“ und Alltagskultur, wie sie eine auf alten Familien beruhende Gesellschaft prägen.
Wie sehr die Rechte mit familiären Solidaritäten verbunden ist, arbeitet Lene Faust für die römische Szene überzeugend heraus. Wir Nordeuropäer sollten uns davor hüten, diese „Stammeskultur“ zu exotisieren – es ist nicht ausgemacht, ob die Corona-Krise nicht dafür sorgt, dass unser Vertrauen in den Staat erheblich leidet. Vielleicht wünschen wir uns danach in die segmentären Gesellschaften des Südens. Sie haben immerhin den Vorteil, dass sie die Gewalt eher hegen als „verwirrte Einzeltäter“ in großer Zahl hervorzubringen.
Info
Neofaschismus in Italien. Politik, Familie und Religion in Rom. Eine Ethnographie Lene Faust Transcript 2021, 366 S., 40 €
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