„Erst im Exil kommt man darauf, zu einem wie wichtigen Teil die Welt schon immer eine Welt der Verbannten war“, schrieb Elias Canetti in London. Dahin war er 1938 aus Wien emigriert und arbeitete im Lesesaal des British Museum an Masse und Macht (1960), einer einzigartigen und zugleich ernüchternden Philosophie kollektiver Vorgänge.
Im British Museum erging sich unterdessen Franz Baermann Steiner (1909 – 1952), Elias Canettis Stichwortgeber in Sachen Ethnologie. Er stammte aus Prag. Steiner war, anders als Canetti, Zionist, dazu Lyriker, und so fand die weltzeitliche und koloniale Ordnung, die das wichtigste Museum des Noch-Empire repräsentierte, Eingang in ein umfangreiches autobiografisches Poem: „Zu neuer sammlung gehäuft sind Haida, Hellas und
d Haida, Hellas und Ur, / Memphis, Jabneh, Benin, Benares. / Begeh die äußere rampe. Zwischen dem schnitzpfahl der rothaut / Und grau witterndem stein versunkener insel / Wandle, bewegliches schaustück jüngster verbannung.“ Schaustücke der Verbannung waren in diesen Jahren auch mitteleuropäische Juden, die aus der zivilisatorischen Ordnung ausgestoßen in London überlebten. Steiner wusste darüber hinaus, dass er ein Schaustück war für die britische Gelehrsamkeit: das sich weit in den Mittleren Orient erstreckende englische Empire herrschte nicht nur über räumlich, sondern auch über zeitlich ferne Kollektive. Für englische Evolutionisten war das lebende Judentum ein Stück kolonialisierter Vergangenheit.Fremde HerkunftVor allem aber wusste er, dass seine eigentlichen Verbündeten „God save the Queen“ nicht mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Sie versammelten sich stattdessen im „Student Movement House“ und stammten aus Indien, Rhodesien, der Karibik oder aus Irland. Sie waren häufig Angehörige einer in ihren Herkunftsländern kleinen Schicht aus Mediatoren zwischen der Kolonialmacht und den Ansässigen. Wie in Tajjib Salichs Zeit der Nordwanderung (1967), dem großen sudanesischen Roman einer kolonialen Erfahrung, eindrücklich beschrieben, suchten manche von ihnen ihre Aufstiegschancen bei den „Zivilisationsbringern“ – und wurden doch wieder zurückgestoßen auf subalterne Verwaltungsposten, in eine Herkunft, die ihnen fremd geworden war. Sie erfanden sich als Engländer und mussten entdecken, dass die Engländer sie nicht anerkannten. Später kämpften sie gegen die Kolonialmacht und wurden häufig nicht die Befreier, die man sich wünschte.Steiners Judentum reifte im Exil. Seine Prager Herkunft hatte ihn darauf nicht vorbereitet, nicht einmal das Studienjahr in Jerusalem, als er sein orientalisches Kulturerbe entdeckt haben wollte, das sich im Übrigen gut mit den heimischen Synkretismen vertrug. Es verdankte sich ebenso einer geistigen Durchdringung wie einer sozialen Sondersituation und mündete in die Vorstellung, Judentum und Zionismus könnten exemplarisch für die Erneuerung und für die Selbstregierung indigener Gemeinschaften in einer postkolonialen Welt stehen.Gegenwärtige Diskussionen, wie beispielsweise die um möglicherweise antisemitische Züge in Texten postkolonialer Denker wie Achille Mbembe oder aber um die „kolonialistischen“ Verhaltensweisen Israels, beharren auf der Dichotomie von Zionismus und Anti- bzw. Postkolonialismus. Das ist nicht nur ideenhistorisch fragwürdig. Auch die Forderung nach der Erneuerung eines „Bandes der Empathie“, das von den Opfern des Holocaust zu den Opfern kolonialistischer Gewalt und Unterdrückung reichen sollte, enthält wenig Neues. Hilfreicher wäre es, zu sehen, wann und warum dieses Band zerschnitten werden konnte. Unter Umständen muss man dann einer Auseinandersetzung zuhören, bei der keine Partei Recht behält oder Recht behalten kann. „Und warum sollte denn einer von beiden im Recht sein?“ (F. B. Steiner)Eine vielleicht entscheidende Phase dafür, Empathie und ihr Scheitern zu verstehen, verbirgt sich im Zeitfenster zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung Israels. Nach einem strikten Aufnahmestopp wird das weitgehend pazifizierte Palästina als britisches Mandatsgebiet durch den Zustrom von Holocaust-Überlebenden heillos überfordert und sehen sich sowohl Juden (wegen des Völkerbundbeschlusses und der Balfour-Deklaration) als auch Araber betrogen. Im Februar 1947 kommt Palästina auf die internationale Agenda, im August 1947 veröffentlichen die Vereinten Nationen ihren Majority Report, wonach eine Zweiteilung des Landes einschließlich eines Korridors für eine internationale Mandatarmacht sowie die Internationalisierung Jerusalems die sinnvollste Lösung seien. Die Schwäche der internationalen Gemeinschaft ermöglicht den von Dezember 1947 bis in den folgenden Mai andauernden innerpalästinensischen Krieg, an den sich die Auseinandersetzungen des neu gegründeten Staats Israel mit seinen arabischen Nachbarn anschließen. Beide Kriege zusammen ergeben das, was im israelischen Gedächtnis als „Unabhängigkeitskrieg“ firmiert. Die Ereignisse bedeuteten jedoch nicht bloß eine Transformation der äußeren Form Palästinas, sie machten ein zuvor ebenso aus weltanschaulichen wie realpolitischen Gründen vertretenes Projekt zunichte: das Ansinnen vieler Zionisten, durch die eigene Territorialisierung den palästinensischen Fellachen, für die sich kein arabisches Land interessierte, einen Weg zur Modernisierung zu bahnen. Diese besonders in den 1920er Jahren ventilierte Idee einer allgemein befreienden jüdischen Re-Indigenisierung bricht mit der Zweistaatendoktrin endgültig auseinander. Und damit das Projekt eines postkolonialen Staates.Dieses flammt noch einmal auf angesichts der indischen Unabhängigkeit. Mohandas „Mahatma“ Gandhi schien selbst Unabhängigkeit und „Erneuerung aus dem Geiste“, ein kulturzionistisches Schlagwort, auf ideale Weise zu verkörpern. Zum bewussten Inder wurde er erst in der Diaspora, nämlich in seinen drei Londoner Jahren. Bevor er sich die spirituelle und kulturelle Tradition seines Landes aneignete, festigte ein Speisegebot, der Vegetarismus, die Solidarität mit seinem Volk. Wie die Zionisten wird auch Gandhi die nationale Referenz, auf die er sich bezieht, erst herstellen, mindestens aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwecken müssen. Martin Buber hat in Gandhi, Politics and Us (1930) auf solche und andere innere Verwandtschaften hingewiesen. Doch Gandhi kommt seinen zahlreichen jüdischen Freunden nicht genug entgegen, er ermahnt sie, ihr „inneres Jerusalem“ zu realisieren und vor allem das Prinzip der Gewaltlosigkeit anzuwenden. Dass die Juden eine Nation sind oder nach allem, was geschehen ist, sein müssen, bleibt ihm unverständlich.„For a free Asia!“Lokal ist der Ton anders: Linke Zionisten in England erhalten Grußadressen von indischen Interessengruppen. „Genau wie Sie glauben wir daran, dass die Sache der unterdrückten Menschen auf der ganzen Welt eine einzige und unteilbare Sache ist, um die wir uns gemeinsam bemühen müssen. (...) For a free Asia!“, heißt es in einem Brief an Steiner. Im Exil scheint es relativ einleuchtend, dass die Juden sich als Volk, und zwar als „orientalisches“, betrachten. Nimmt Gandhi vielleicht zu viel Rücksicht auf die 70 Millionen indischer Muslime?Dass die jüdisch-indische Allianz in London und Oxford die Anfänge der israelischen Staatsgründung nicht überdauert, hat mehrere Ursachen. Viele anti- und postkoloniale Allianzen kommen nicht weit, sobald auf „Befreiungskämpfe“ die Nationalstaatsbildung folgt. Im Fall Steiners, durchaus vergleichbar denen anderer Linkszionisten, die sich um Parteien wie „Poale Zion“ oder den „Brith Shalom“ organisierten, ist es auch die Enttäuschung über das aufgegebene Prinzip des eingeschlossenen Anderen. „Das Judentum steht und fällt mit dem Fremden in seiner Mitte“, schreibt er mehrmals. Israel enttäuscht ihn und gibt zugleich Sicherheit. Bevor er sich aber zu der Aussage durchringt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker bringe Qualen über Qualen, fügt er der Reihe jüdischer Briefe an Gandhi den seinen hinzu. Dort weist er noch einmal auf die Antithese Europa – Asien hin, die in der Tempelzerstörung durch Titus ihren Ausdruck fand: „Die römische war die erste europäische Expansion.“ In einem asiatischen Gemeinwesen hingegen hätten die Juden überleben können: „Wir hätten uns als eine der vielen Kasten Indiens niedergelassen, wir hätten den Gott der ganzen Menschheit angebetet, und genau wie es Ihre Kasten tun, hätten wir die Art und Weise, wie wir beten, unsere Abgeschiedenheit und Tradition streng bewahrt.“ Da man aber von europäischen Mächten kolonialisiert worden und an einen Punkt gelangt sei, wo sich Gewaltlosigkeit zwar als ethisch geboten, aber auch als eine Form der Selbstvernichtung erwiesen habe, müsse man nun einen eigenen Weg zurück in die Zukunft finden.Die Diskussionen aus der Zeit zwischen Weltkrieg und Dekolonialisierung – auf die Gründung Israels, die Teilung Britisch-Indiens folgten die Unabhängigkeit Malaysias, die Singapurs, in den 1960ern die der meisten afrikanischen Gebiete und der Westindischen Inseln – führen vor Augen, wie eng Zionismus, Postkolonialismus, aber auch der Umschlag von Emanzipationsbewegungen in ihr Gegenteil verbunden sind. Und sie machen in diesem Fall auch klar, dass die jüdische Erfahrung das orientalistische „Othering“ ebenso erlitt, wie sie einen eigentümlichen Orientalismus als kulturelle und als Handlungsperspektive entwickelte. Wer Identitäten als „konstruiert“ wahrnimmt, sollte dies beherzigen und darf die jüdischen Bewohner Israels nicht den „Autochthonen“ gegenüberstellen.Der kürzlich verstorbene linke israelische Historiker und Politologe Zeev Sternhell hat die Gründung Israels als eine existenzielle Notwendigkeit beschrieben und zugleich bedauert, dass die Fortsetzung eines ethnischen Verständnisses von Nation deren staatsbürgerlichen Charakter überblendete und Israel somit nicht zum Staat all seiner Bürger wurde. Diese Verblendung profitiere von der fortgesetzten Bedrohung, denn: „Ich glaube, wenn die Araber uns vernichten könnten, würden sie dies mit Freude tun.“ Aber der Zionismus selbst als Überzeugung, dass Menschenrechte in nationale Rechte übersetzt werden müssen, um durchgesetzt werden zu können, hat zum Kanon der großen postkolonialen Bewegungen beigetragen und dort seine Klassiker aufgestellt. Dass diese nicht apologetisch, sondern kritisch gelesen werden wollen, gilt für sie genauso wie für die Nachfahren jener Schicht kolonialer Mediatoren, aus der Achille Mbembe stammt.Placeholder authorbio-1
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