„Lettre“-Klage gegen „Sinn und Form“ zeigt Problem der deutschen Kulturförderung

Meinung Die jüngste Ausgabe der traditionsreichen Akademiezeitschrift „Sinn und Form“ darf vorerst nicht mehr erscheinen. Ist aufgrund staatlicher Förderung mal wieder die Vielfalt der Literatur bedroht?
„Lettre“-Klage gegen „Sinn und Form“ zeigt Problem der deutschen Kulturförderung

Foto: Sinn und Form

Der Verleger und Herausgeber der Zeitschrift Lettre International (nach eigenen Angaben 16.500 Verkäufe, davon 8.000 Abonnenten) holt die Axt heraus, um die zarten Pflänzchen des deutschen Kulturbetriebs zu tilgen. So zumindest liest es sich, wenn man der Stellungnahme von Sinn und Form, einer aus Ostdeutschland in die gesamtdeutsche Akademie der Künste gerettete Literaturzeitschrift mit nicht mehr als 3.000 verkauften Exemplaren, folgt. Frank Berberich, Lettre-Chefredakteur, ärgerte sich letztes Jahr, weil das Bundeskulturministerium Coronahilfen an Kulturträger ausgab, jedoch nicht an „Presseerzeugnisse“. Darunter falle seine Kulturzeitschrift aber, beschied man ihm. Das fand Berberich erklärungsbedürftig, denn Sinn und Form konkurrierte ja mit ihm am Bahnhofskiosk oder in Buchhandlungen. Und sie war dabei noch nicht einmal auf Verkäufe angewiesen: wenn das Geld fehlte, zahlte eine bundesunmittelbare Körperschaft öffentlichen Rechts nach.

Berberich ließ juristische Gutachten erstellen. Sie kamen überein, dass Sinn und Form in der Weise ihres derzeitigen Erscheinens das Grundrecht auf Pressefreiheit verletze. Denn dieses Grundrecht ist nicht nur ein Abwehrrecht gegen den Staat. Es verpflichtet diesen auch, „die Funktionsbedingungen einer freien Presse zu gewährleisten“, sprich, die privatwirtschaftliche Konkurrenz nicht zu stören. Das aber geschehe, wenn eine bundesunmittelbare Körperschaft ohne gesetzliche Grundlage (im Akademiegesetz findet sich kein Passus zur Herausgabe einer Zeitschrift) den privatwirtschaftlichen Markt betritt, ohne an dessen Risiken gebunden zu sein.

Nun kann man, wie Beiräte, Akademiemitglieder und andere Personen, die im Markt stets die bösen Kräfte entdecken, sobald er ihr subventionsbeschwertes Dasein angreift, durchaus deklamieren, die „Vielfalt literarischen Lebens“ sei entscheidend auf privates und öffentliches Engagement angewiesen. Man würde Lettre, falls es Not tue, sogar unter die Arme greifen. Frank Berberich, der seine Zeitschrift immer auf Distanz zum Berliner Kulturbetrieb hielt, sich jahrzehntelang selbst ausbeutete, seinen Autoren – von Agamben bis Slavoj Zizek – wenig, den Übersetzern noch weniger zahlte, wird solche Zuwendungen zurückweisen. Sinn und Form dürfte ihm nicht nur die Preise verdorben haben – er konkurriert mit ihr wohl eher um Texte als um Leser –, die Willkür, mit der die öffentliche Hand austeilt, ist das Problem.

Grundproblematik der deutschen Kulturförderung

Das Berliner Landgericht scheint ihm beizupflichten. Die jüngste Ausgabe der Akademiezeitschrift wird gerade nicht ausgeliefert. Die Erklärung, hier würde ein „angry old man“ zur Tat schreiten, weil sein Druckerzeugnis den Zenit überschritten habe und die Kräfte langsam abnehme, greift indes zu kurz. Lettre International mit seiner großen Reserve an osteuropäischen Autoren ist derzeit gefragter denn je. Sinn und Form hingegen hat sich in kulturprotestantischer Betulichkeit eingerichtet, immerhin mit schönen Gedichten. Wer sich nicht zu tief in diese versenken will, sollte dem Kläger dankbar sein, dass er die Grundproblematik der deutschen Kulturförderung aufzeigt: die Tatsache, dass die Unlust zu gesetzlicher Klärung eine Art von Interventionsförderung hervorgebracht hat, die von Praktiken klientelistischer Gesellschaften nicht mehr weit entfernt ist.

Was dabei herauskommt, ist eine Verlagsförderung nach Preisen (Deutscher Verlagspreis) und ein Zeitschriftenmarkt, wo noch jede Institution ihre Duftmarke hinterlässt. Das ist nicht notwendig zum geldwerten Nachteil von Übersetzern und Autoren, aber es ist weder nachhaltig noch belohnt es Engagement. Und es fördert am Schluss zwar keine Staatskunst – woran vermutlich nicht einmal Frank Berberich ernsthaft glaubt – aber einen hilf- und zahnlosen Begriff von Vielfalt, Demokratie und Literatur, wie er aus dem Protestschreiben der Berliner Akademie der Künste hervortritt (das von zahlreichen Schriftsteller:innen unterzeichnet wurde). Die Alternative kann nur heißen, dass der Staat seine Förderung in einem Maß gesetzlich regelt, dass direkte Interventionen ausscheiden. Dann kann es zwar sein, dass man auch die Secession von Götz Kubitscheks Institut für Staatsforschung mitfinanziert, solange sie nicht den Boden des Grundgesetzes beschmutzt. Aber diesen Streit wird man aushalten. Sinn und Form und Lettre International stünden dann sicher vereint auf der richtigen Seite.

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