Nouvelle Vague auf Sizilianisch

Literatur Leonardo Sciascia hob den italienischen Kriminalroman auf eine neue Stufe. Vor hundert Jahren wurde er bei Agrigent geboren
Ausgabe 16/2021
Das Kiosk „La Sicilia“ in Cantania, Sizilien (1984)
Das Kiosk „La Sicilia“ in Cantania, Sizilien (1984)

Foto: Dieter Bauer/IMAGO

„Jeder von uns muss, um frei zu sein, um seiner Würde treu zu bleiben, ein Häretiker sein“, schrieb der sizilianische Romancier Leonardo Sciascia. Vor ziemlich genau hundert Jahren geboren, im Brotberuf ein mäßig begabter Volksschullehrer, hat er den italienischen Kriminalroman, den Giallo, auf eine neue Stufe gehoben. Sei es in Tag der Eule (1961), das 1968 von Damiano Damiani mit Franco Nero und Claudia Cardinale verfilmt wurde, in Todo modo (1970) oder im dokumentarischen Probelauf der Affäre Moro (1978) – der Kriminalfall führt stets in jenes Zwielicht, in dem sich die intime Seite der Kultur zeigt. Dort hineinzublicken kann mitunter erschrecken, für die Protagonisten verbindet sich die Lösung des Falles deshalb häufig mit politischer und Selbsterkenntnis.

Leonardo Sciascia blieb stets ein auf Sizilien bezogener Schriftsteller, wenngleich er die Gesamtausgabe seiner Werke einem Franzosen anvertraute. Überhaupt zeichnet sein Werk Züge des französischen Moralismus, des strengen Durchdenkens von Verhaltensweisen, aus. Er begann mit Erzählungen über seinen Geburtsort Racalmuto im trockenen Inneren der Insel, weitab von jedem Strand und geprägt von Schwefelminen. Il mare colore di vino (Das weinfarbene Meer) gehört zu den Erzählsammlungen, die auf der Mittelmeerinsel beinahe jeder kennt. Sie erzählt die Transformation des Landes von der Feudal- bis zur Nachkriegsgesellschaft.

Die Mafia unterschreibt nicht

Sciascias vom Bewusstsein jahrtausendealter Fremdherrschaft grundierte Sicht auf seine Heimat prägte auch seine Gialli. In Tag der Eule, Sciascias erstem Mafiaroman, steht ein norditalienischer Kommissar erst verstört, dann zunehmend fatalistisch vor der Verstocktheit der Insulaner. Es braucht eine Weile, bis er die anonym eingehenden Denunziationen versteht, denn: „Sie schreiben, aber sie unterschreiben nicht.“ Wer aber für seine Worte nicht einsteht, taugt nicht zum Zeugen. Vielmehr beteiligt er sich an einer Welt des Gerüchts, die nur mehr die Schwundstufe einer auf Patron-Klient-Beziehungen gründenden Gesellschaft bezeichnet. Und diese Ordnung ist im Fall Siziliens der letzte Halt einer postkolonialen Situation: nach den Aragonesen, nach den Savoyern, nach den Faschisten und nach den von den Amerikanern eingesetzten Mafiosi, worauf soll man sich da noch verlassen?

Der Kommissar entdeckt, wie das organisierte Verbrechen vor Ort mit der großen Politik im Bunde steht, wie die Regierung in Rom, die Geschäftsleute des Nordens und die mit ihrer mediterranen Identität Folklore betreibenden Mafiosi zusammenwirken. Besiegen kann der Kommissar sie nicht, bezeugen, das schon. Tag der Eule ist also auch noch ein existenzialistischer Roman – Nouvelle Vague auf Sizilianisch.

Carlo Ginzburg, einer der Väter der Mikrohistorie, hat zur selben Zeit, als Sciascia auf der Rückseite der Wirklichkeit seine Romane verfasste, die Kulturwissenschaften als „Indizienwissenschaften“ charakterisiert. Solches Indizienwissen hat Sciascia (der auch als Politiker im Stadtrat von Palermo und im Europaparlament saß) zeitlebens gesammelt, auch indem er historische Fälle noch einmal aufrollte, in denen sich das Allgemeine exemplarisch bricht. Seine Erfindungen gleichen oft dem experimentellen Aufteilen eines Rätsels auf verschiedene Rollen. „Inchieste“, Ermittlungen, bei denen die Frage nach der gerechten Macht, aber auch nach der Möglichkeit der Literatur im Mittelpunkt steht: Wie kann man wahr schreiben, wenn an der Schrift immer schon das Blut der Inquisitoren haftet?

Seit ein paar Jahren legt der Wagenbach-Verlag eine Reihe von Sciascias Kriminalromanen neu auf, während zuletzt, mit einem sehr lesenswerten biografischen Nachwort von Maike Albath, Ein Sizilianer von festen Prinzipien bei Edition Converso erstmals auf Deutsch erschienen ist. Darin geht es um einen häretischen Mönch, der die göttliche Gerechtigkeit herausfordert, indem er seinen Inquisitor umbringt. Dass man es im Leben hartnäckig mit den größten Mächten aufnehmen sollte, war Sciascias nicht geringstes Anliegen.

Ulrich van Loyen schrieb Neapels Unterwelt –Über die Möglichkeit einer Stadt. Im Herbst erscheint von ihm Der Pate und sein Schatten. Die Literatur der Mafia (Matthes&Seitz)

Info

Tag der Eule Leonardo Sciascia Arianna Giachi (Übers.) Wagenbach 2020, 144 S., 10 €

Ein Sizilianer von festen Prinzipien Leonardo Sciascia Monika Lustig (Übers.) mit begleitenden Texten von Maike Albath und Santo Piazzese, Converso 2021, 192 S. 23 €

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