Osteuropäische Intellektuelle schreiben an Westsplainer: „Ihr versteht es nicht“
Ukraine-Krieg Im Essayband „Alles ist teurer als ukrainisches Leben“ setzen sich osteuropäische Autoren mit Positionen zum Ukraine-Krieg auseinander. Adressiert werden dabei vor allem Intellektuelle aus dem Westen, die es meinen, besser zu wissen
Russlands Angriff auf die Ukraine und die ununterbrochene Kommentierung dieses Angriffs hat ein Genre hervorgebracht, das vielleicht nicht neu ist, aber so massiv nie zu Bewusstsein kam: man könnte es Echtzeitarchiv nennen. Es findet sich in fiktional-dokumentarischen Filmen (zum Beispiel Butscha), die in dem Moment gedreht werden, da man noch den Staub hinter den Füßen der vertriebenen Besatzer wirbeln sieht. Es findet sich in der Bündelung der Reden des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die sich weiterhin fortsetzen wird, und es findet sich auch anhand von Büchern, die sammeln, wie über die Ukraine, über ihr Recht auf Widerstand und ihre Alliierten gesprochen wird.
All diese Echtzeitarchive teilen die Tendenz, dass ein noch andauernder K
enz, dass ein noch andauernder Krieg als Archivgut, das heißt als etwas Beendetes und also schon Überwundenes wahrgenommen wird, und dienen somit als Schutz gegen die Angst und den Krieg selbst. Sie verlagern das Gemetzel auf Bühnen, auf denen die Angegriffenen und ihre lange Zeit wie schockgefroren wirkenden Freunde im Mittleren Westen – also die Deutschen, die Österreicher, die Italiener – im Angesicht der dargestellten Umstände und ihrer Diskursivierung wieder Handlungsmacht gewinnen.Der handliche Band über Westsplaining gehört in diese Reihe der Echtzeitarchive. Es steht zu befürchten, dass man ihn noch monatelang fortsetzen wird, aber es steht auch zu hoffen, dass man eines Tages die darin enthaltenen Essays und Interviews zitiert, um zu zeigen: Das wussten wir, das konnten wir wissen. Westsplaining meint dabei eine nur halbironische Aneignung des auf die kalifornische Schriftstellerin Rebecca Solnit zurückgehenden Ausdrucks vom „Mansplaining“: die übergriffige Weise, in der Männer glauben, Frauen die Welt erklären zu müssen.„Westsplaining“ nun wird von alten weißen Männern genauso betrieben wie von alten weißen Frauen, die der Ukraine erklären, wie sie ihr Schaden-Nutzen-Kalkül aufzustellen habe. Zum Beispiel anhand von Friedensinitiativen, die fordern, die ukrainische Armee nicht länger auszurüsten, um den unvermeidlichen Blutzoll der Ukraine genauso zu begrenzen wie den Zorn des über taktische und strategische Atomwaffen gebietenden Kremlherrschers.Zum „Westsplaining“ gehören aber nicht nur unmittelbare Ratschläge, sondern eine Geschichtsschreibung, die sich die imperialen Ambitionen Russlands längst zu eigen gemacht hat. Darin ist zwar nicht von „Kleinrussen“ und „Großrussen“ die Rede, aber die Ukraine – und mit ihr der größte Teil Osteuropas – wird zu einer Art Verfügungsmasse zwischen historischen Großmächten. In dieser Annahme russischer Stärke und Bedeutung, die sich im besonderen Recht niederschlage, ein phantasmagorisches „Einflussgebiet“ zu kontrollieren, schreibt sich nicht zuletzt der nach Osten gerichtete deutsche Kolonialismus fort. Und der begann weit vor 1938.Eine Dekolonialisierung Russlands, wie sie die im Band versammelten Stimmen fordern, wird auch Deutschland mit seiner kolonialen Vergangenheit konfrontieren. Diese begann nicht erst in Namibia. Sie setzt sich in den Worten der Wagenknechts, Käßmanns und Schwarzers fort, Akteurinnen, deren Karrieren vor allem darauf beruhen, dass sie andere vertreten. Vertreten aber ist ambivalent: man steht für jemand ein und man tritt ihn weg.Texte an Westsplainer adressiertIm vorliegenden Band schreiben Menschen aus dem östlichen Europa zurück. Die meist kurzen Texte entstammen Tageszeitungen und Blogs, viele sind ausdrücklich an die Westsplainer adressiert. Es geht in ihnen weniger um Waffenlieferungen als vielmehr um die Frage, welchen Umgang man mit Russland und seiner Kultur üben, wie die Ukraine dazu stehen solle. Das Ausspielen einer guten russischen Hochkultur gegen ihre imperialistische Indienstnahme unterlaufen Autoren wie Peter Rychlo, Oksana Sabuschko oder Stepan Twardoch auf reflektierte Weise. „Wenn die russischsprachigen Ukrainer sich als Patrioten dieses Landes sehen, dann können sie das selbstverständlich auch in russischer Sprache tun“, so Rychlo. Die mehrfach preisgekrönten Romane von Andrey Kurkow geben dafür ein gutes Beispiel.Überhaupt ist die Ukraine das Land, wo Russisch sich noch entfalten kann und nicht zu einer ängstlichen, nichtssagenden Sprache verdorrt, wie Boris Schumatsky darlegt. Die russische Kultur als Trägerin eines imperialen Modells indes sollte in ihrer Verführungskraft thematisiert werden: gerade für Minderheitenangehörige oder Exilierte verbürgte sie die Möglichkeit einer Rückkehr in ein imaginäres Zentrum. Man könnte hinzusetzen, dass es gerade jene Enthobenheit ist – strukturalistisch gesprochen: eine Kultur des leeren, nach Besetzung gierenden Signifikanten – die sie für Gewalt und Eroberungslust zumindest offenhielt. Das Problem mit Russland heute ist ja nicht die Überpolitisierung, sondern deren Gegenteil. Dass sich dabei Parallelen zur deutschen Kultur ergeben, erhellen ein paar kluge Sätze zu Thomas Manns Ansichten eines Unpolitischen (K. Kolpak und A. Konarzewska). Man wird Dostojewski oder Brodskij nach Butscha und Mariupol anders lesen müssen, so wie man Richard Wagner heute anders hört als vor Auschwitz.Treffend auch ein Essay der kroatischen Partisanenenkelin Alida Bremer, der am 12. Mai 2022 in dieser Zeitung erschien (der Freitag 19/2022) und im Sammelband abgedruckt ist. „Von Jugoslawien lernen“ könne man, wie die großen Imperialismen die kleinen Nationalismen heraufbeschwören, ebenso, wie Putins Russland Staatsterrorismus als außenpolitisches Mittel betrieb. Dass die primäre Ursache dieser Kriege wie des heutigen nicht im Gegensatz von „Autoritarismus und Demokratie“ gesehen werde, sei besonders bezeichnend für ein Land wie Deutschland, das mit der Auslieferung der 1945 von der Roten Armee überrannten Länder an Russland den Preis für die Wiederherstellung der eigenen Unschuld bezahlen lasse.Freilich ist eine Zusammenstellung solcher in die Tagesdebatte geworfenen Beiträge nicht frei von Redundanzen. Andererseits lassen gerade sie darauf schließen, wie wenig sich die Argumente der Gegenseite tatsächlich bewegen. Die Angst vor Atomkrieg, sozialen Verwerfungen im Inland, oder einfach davor, auf der falschen Seite gestanden zu haben, ist im Laufe eines Jahres nicht kleiner geworden. Kleinmütiger aber scheinen die Menschen, unduldsamer auch angesichts der schlimmsten Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Und natürlich drücken die teils sehr gut ausgebildeten Fachkräfte aus der Ukraine die Preise, nicht nur im Dienstleistungssektor, sondern auch im Kreativbereich. Dazu kommt der Wunsch nach kultureller Sublimierung: in einer schlechten Welt soll wenigstens das Gedicht oder die Novelle noch Reinheit bewahren. Und sei es durch die Münder der Schrammelbarden, die noch jedes „Manifest für den Frieden“ unterzeichnet haben.Was dabei verloren zu gehen droht, ist ein Gefühl für die Wertgebundenheit des Lebens. Merkwürdigerweise sprechen jene, deren physisches Dasein am wenigsten bedroht ist, immerfort von der Notwendigkeit, den sinnlosen Blutzoll zu stoppen. Die anderen verteidigen mit ihrem Leben hingegen zugleich ihre Würde (ihr Kampf geht somit über den für ihr eigenes Leben hinaus, wie Selenskyj in seinen „War Speeches“ stets hervorhebt). Ein Leben ohne Gerechtigkeit ist weder gut noch würdevoll. Indem die „Westsplainer“ das Überleben als höchstes Gut ausrufen, erweisen sie sich leider nur noch als Apologeten einer Konsumkultur: dort ist Leben, auf welcher Stufe auch immer, das Erste und eben auch – das Letzte.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.