Während die vergangenen Jahre stets aufs Neue die Schwächen des Nationalstaats vorführten, wurden seine Abwehrkämpfe immer heftiger. Finanzkrise, weltweiter Terrorismus, ein Virus, das uns in Gesundheitsregimes des 19. Jahrhunderts zurückkatapuliert, das alles ist mehr als Nadelstiche in den Flanken eines Tieres, von dem man nicht weiß, wie lange es noch standhält. Hobbes’ Leviathan, das Symbol für den modernen Staat, sah auf dem Titel von einst deutlich gesünder aus.
Eigentlich sollte man also annehmen, unsere Zeiten seien gute Zeiten für eine Philosophie, die sich den grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens stellt. Die nachdenkt über den Gesellschaftsvertrag, die Verschränkung von Schutz und Gehorsam oder über die Souveränität dessen, der über den Ausnahmezustand gebietet. Tatsächlich aber hat sich eine intellektuelle Trägheit breitgemacht, als habe man an Präsentationsnachmittagen in Graduiertenschulen zu lange das Lüften vernachlässigt. Als eine der wenigen – die Kieler Philosophin und Publizistin Eva von Redecker (der Freitag 34/2021 und 40/2021) ist unbedingt noch zu nennen – wagt sich die römische Philosophin Donatella Di Cesare an die Gegenwart. Und zwar mit angemessener akademischer Umständlichkeit.
Di Cesare packt ihre Sache von zwei Seiten an, mit zwei parallel auf Deutsch erschienenen Büchern (in Italien erschien das erste bereits 2017). Beide sind, um den Titel eines höchst einflussreichen, zuletzt wieder häufiger zitierten Buches (Staatsfeinde, der Freitag 11/2020)des Ethnologen Pierre Clastres aufzugreifen, Bücher über eine Gesellschaft gegen den Staat, und beide vertrauen darauf, dass nach dem Ende der Nationalstaaten nicht notwendig Mordbrand und Apokalypse hereinbrechen, sondern eine andere, von ihren Rändern her geläuterte Gesellschaft möglich ist. Das mag naiv sein. Völlig zu Recht aber identifiziert Di Cesare ein denkerisches Ungenügen, das auf eine zu starke Korrumpierung der Philosophen durch den Staat zurückgeht. In beiden Büchern wirbt sie darum zusätzlich zu einer neuen Politik auch für eine neue Philosophie. Dass diese Forderung über die Kräfte einer einzelnen Autorin hinausgeht, versteht sich von selbst – aber jeder Sisyphos darf sich freuen, wenn er den Stein ins Rollen bringt.
Wie sich der Staat verteidigt
Die Philosophie der Migration erkennt, ausgehend von Hannah Arendts Wir Flüchtlinge (1943), Migration als grundsätzliche Infragestellung gegenwärtiger staatlicher Ordnung. Aus der Perspektive staatlicher Gemeinschaften – seien diese despotisch oder demokratisch verfasst – erscheine der Migrant als Anomalie, deren Rechtlosigkeit höchstens ins Humanitäre abgewendet werden könne. Diese Rechtlosigkeit beruhe auf der Tatsache, dass Menschenrechte von Organen der Nationalstaaten ausgesagt werden, an deren Grenze sie gleichsam verpuffen. Paradoxerweise bedeutet dies, dass diejenigen, die Rechte am nötigsten haben, sie am wenigsten bekommen, da, zweite Paradoxie, der Staat, um den einen Rechte zu garantieren, sie den anderen versagt.
Nun gibt es zwar überall Regeln dafür, Menschen zu Staatsbürgern zu machen, nur reproduzieren sie jeweils die Asymmetrie, die sie eigentlich beheben wollen. Konservative und liberale Philosophen haben Energie darauf verwandt, aus der Perspektive der aufnehmenden Gemeinschaft den Grad der Verpflichtung gegenüber Neuankömmlingen zu bestimmen. „Das Recht auf Zugehörigkeit“, das der Migrant einklagt und wovon sein Leben abhängt, werde entweder vereinsmeierisch bagatellisiert oder aus der genealogisch übermittelten Aneignung von Territorium heraus erst einmal abgewiesen. Die Institution des Nationalstaates bleibe indes unbefragt. Dabei sei es diese vorausgesetzte Einheit von Nation und Territorium, die im Mythos der Aneignung, durch Arbeit und Kriege, und im Glauben an die Verteilbarkeit der Erde ihre Legitimation findet. Diese Mythen kann man im Einzelnen dekonstruieren, aber kaum die Ratio, die sich noch in jeder Dekonstruktion versteckt.
Donatella Di Cesare plädiert für ein Ende des klassischen Nationalstaats, indem sie die anthropologische Konstante des „Wohnens“ vor die „Bürgerschaft“ stellt. Wir bauen, weil wir wohnen, schrieb Heidegger. Für Di Cesare ist dies Grund genug, für uns alle als „ansässige Fremde“ in einer Kultur der Gastfreundschaft zu plädieren.
Der erst vergangenes Jahr auf Italienisch erschienene Text über Die Zeit der Revolte radikalisiert diesen Perspektivwechsel von innen nach außen. Die überall flackernden Aufstände brächten in ihrer rhizomatischen Verteilung den polizeilichen Charakter des Staates zum Leuchten, seine „gründende Gewalt“. Die gesetzliche Ermächtigung, außergesetzliche Funktionen auszuüben, gehöre zum Wesen der Polizei und habe sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie geltend gemacht, in der, wenigstens in Italien, fast ausschließlich durch Dekrete regiert wurde. Für Di Cesare ist aber die Revolte keine Antwort auf die Pandemie, sondern ist eigentlich die staatliche Antwort auf die Pandemie Ausdruck einer Krise, in der der Staat schon länger gefangen war. Um Auswege zu finden, gelte es eine Außenperspektive auf den Staat einzunehmen. Die Philosophin tut dies durch das Nachzeichnen der Revolte. Deren Praxis zu verstehen, indem sie sie zum Verständnis der eigenen Praxis macht, ist die Aufgabe eines Denkens, das sich in der Gegenwart bewähren möchte.
Donatella Di Cesares Bücher sind gewiss nicht frei von Längen, Widersprüchen, umständlichen Herleitungen (in der Übersetzung werden sie übrigens gut austariert). Aber sie sind kühn: Sie betrachten nicht einfach den „Schiffbruch mit Zuschauer“, sondern rudern an die Stelle des Unglücks. Helfen sollten ihr dabei noch andere.
Info
Philosophie der Migration Donatella Di Cesare Daniel Creutz (Übers.), Matthes & Seitz Berlin 2021, 343 S., 26 €
Die Zeit der Revolte Donatella Di Cesare Daniel Creutz (Übers.), Merve 2021, 128 S., 15 €
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