Ist es nicht ein wenig paradox? Da gewinnt – auf niedrigem Niveau wohlgemerkt –eine Partei, die einmal angetreten war, den „kleinen Leuten“ eine Stimme zu geben. In den 1960er und 1970er Jahren gelang es vor allem der SPD, über 90 Prozent der Wähler:innen zu mobilisieren und sie glauben zu machen, auch ihre Stimme habe Einfluss auf das politische Geschehen.
Heute aber bleiben die heutigen „Kleinsten“, Unsichtbarsten und am sozialen Rand Stehenden zu Hause. Weil „die da oben“ ohnehin machen, was sie wollen – und sicher nichts für einen selbst. Gleichgültig ob in der Nichtwähler-Hochburg Duisburg oder in Augsburg-Oberhausen, gar nicht zu reden von den abgehängten Regionen in Ostdeutschland: Es gibt Landstriche und Viertel, wo nicht einmal mehr jeder oder jede Dritte zur Wahl geht. Dort leben sogenannte Bildungsferne und Arbeitslose, Menschen ohne Perspektive. Die Wahlenthaltung, sie steigt, wo das Einkommen sinkt.
Bezöge man die 15 Millionen Nichtwähler:innen in die Wahlergebnisse ein – abgesehen von den zehn Millionen hier lebenden erwachsenen Menschen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind –, würden sie bei der aktuellen Wahlbeteiligung von 76,6 Prozent die stärkste Fraktion stellen. Alle anderen Parteien müssten Federn lassen.
Umgekehrt wäre es ein Experiment wert, fast ein Viertel der Abgeordnetensitze nicht zu besetzen – und eine kreative Art, den Bundestag zu verkleinern. Zumindest spiegelte dies die Schieflage der repräsentativen Demokratie, und man darf annehmen, dass sich die Parteien bei der nächsten Wahl mehr um die kümmern würden, die sich weigern, ihnen Legitimation zu verschaffen.
Die Linkspartei hat aufgrund einer Bertelsmann-Studie, die dieses Wahlphänomen erstmals untersucht hat, 2018 bei der Bundesregierung angefragt, ob sie in dieser Entwicklung eine Gefahr für die Demokratie sehe. Eine befriedigende Antworthat die Merkel-Administration nie gegeben. Der kommenden Regierung sei der gerade erschienene Versroman Am laufenden Band des französischen Schriftstellers Joseph Ponthus empfohlen, der eindrucksvoll erklärt, warum man lieber die schlimmste Maloche auf sich nimmt, als aus der Arbeitsgesellschaft zu fallen. Es ist die fehlende Hoffnung, die aus der bürgerlichen Demokratie treibt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.