1914: Die Heimatfron

Zeitgeschichte Im Ersten Weltkrieg müssen überall in Deutschland Frauen Arbeits- und Hilfsdienst leisten, um eingezogene Männer zu ersetzen. Ein Schrittmacher der Emanzipation?
Ausgabe 43/2014

Wo ich herkomme, dort ist ein Mädchen nichts wert. Hier bin ich frei und gleichberechtigt. Als Frau darf ich Teil der kämpfenden Truppe sein. Das macht mich wirklich sehr stolz“, erklärt die 15-jährige Sibel in einer ARD-Reportage, warum sie sich kurdischen Volksmilizen angeschlossen hat. Mit ihrem Kampf für ein freies Kurdistan verbinde sie die Hoffnung, „nicht nur für unsere Erde, sondern auch für die Freiheit der Frau“ zu kämpfen.

Der Krieg als Schrittmacher der Emanzipation? Es ist gerade einmal 100 Jahre her, dass Frauen in Deutschland ähnlich dachten. Obwohl vom Versammlungsrecht der Kaiserzeit extrem diskriminiert, hatten sich die Selbstbewusstesten in Vereinen zusammengefunden und setzten sich für Frauenbildung ein, für bessere Arbeitsbedingungen – manche für das Frauenwahlrecht. Viele waren sozial engagiert, die einen propagierten Geburtenkontrolle, andere wollten Prostituierte vom schlechten Weg abbringen oder Arbeiterinnen zu guten Hausfrauen und Müttern ausbilden.

Die meisten von ihnen – von radikalen Pazifistinnen wie Anita Augspurg oder Lida Gustava Heymann und Sozialistinnen wie Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg einmal abgesehen – sahen im Krieg die einmalige Chance, zu beweisen, dass sie zwar nicht gleich, aber gleich viel wert waren wie die Männer im Feld. „Ein Hauch weltgeschichtlicher Ereignisse rührt uns an, und wir haben zu zeigen, welch ein Geschlecht er trifft“, ließ Elisabeth Altmann-Gottheiner in der Verbandszeitschrift Neue Bahnen wissen. Auf Initiative von Gertrud Bäumer, Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, schlossen sich 1914 nicht nur bürgerliche Frauenverbände, sondern auch Sozialdemokratinnen und konfessionelle Frauenorganisationen dem Nationalen Frauendienst an. Er engagierte sich auf Gemeindeebene in der Wohnungs-, Kranken- und Kinderfürsorge, unterhielt Volksküchen und half Hinterbliebenen. „Heimatdienst“ – so Bäumer – „ist für uns die Kriegsübersetzung des Wortes ,Frauenbewegung‘.“

In der Tat schien nach der Einberufung der Männer zum Militär und der mit dem Notgesetz vom 14. August 1914 beginnenden Mobilisierung der weiblichen Arbeitskräfte eine organisierte Kriegsfürsorge unumgänglich. Das verstärkte sich in der zweiten Kriegshälfte, als sich das Kriegsamt veranlasst sah, 1916 ein eigenes Referat einzurichten, um im Rahmen des „Vaterländischen Hilfsdienstes“ Frauen für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren. Und so haben sich folgenreiche Bilder ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeprägt: Frauen in Munitions-, Pulver- und Stacheldrahtfabriken; Frauen am Hochofen; Frauen statt Pferden vor einen Pflug gespannt; Frauen als Straßenbahnschaffnerinnen. Das Bild von der schwer arbeitenden Frau in Industrie und Landwirtschaft gehört zur wenig hinterfragten Ikonografie des Ersten Weltkriegs.

Als die Neue Frauenbewegung in den siebziger Jahren auf ihrer Suche nach weiblichen Vorbildern die Aktivistinnen der ersten deutschen Frauenbewegung wiederentdeckte, waren solche Bilder – aber auch die Hinterlassenschaften der engagierten Großmüttergeneration – eine willkommene Vorlage. Sie schien politisch weniger kontaminiert als die Trümmerfrauen des Zweiten Weltkriegs, die unter dem Verdacht standen, „Hitler an die Macht gebracht“ zu haben, wie ein berühmt gewordener Aufsatz titelte.

Anfang der achtziger Jahre findet sich in der einflussreichen Frauenzeitschrift Courage eine längere Auseinandersetzung mit der Frage, ob die im Nationalen Frauendienst organisierten und zweifellos national gesinnten Frauen als „übergreifende Selbsthilfeorganisation“ nicht genauso viel zur Frauenemanzipation beigetragen hätten wie die radikalen Kriegsgegnerinnen. Die andere feministische Fraktion sah dagegen in der Einbeziehung der Frauen in männliche Arbeitsdomänen einen „Schrittmacher der Emanzipation“.

Um den Sachverhalt objektiv zu klären, waren lange historische Grabungsarbeiten notwendig. Relativ früh schon rieben sich feministisch gestimmte Historikerinnen an der Tatsache, dass einerseits die gemäßigten bürgerlichen Frauen die Gunst der Stunde nicht nutzten, um das allgemeine Frauenstimmrecht zu fordern – das überließen sie Sozialdemokratinnen und Radikalen –, und die Frauenbewegung andererseits nicht verhindern konnte, dass 1918/19 Arbeiterinnen massenweise entlassen wurden.

Die historischen Studien der folgenden Jahre räumten erst einmal mit einer Legende auf: Entgegen der landläufigen Ansicht, erst der Krieg habe Frauen massenweise ins Erwerbsleben gespült, wurde deutlich, dass sich nach 1914 ein bereits existierender Trend der Vorkriegszeit fortsetzte. Nach den Berufszählungen von 1907 und 1925 stieg die weibliche Erwerbsbeteiligung in diesem Zeitraum lediglich von 30,5 Prozent (8,5 Millionen) auf 35,6 Prozent (11,5 Millionen) und wies eine geringere Steigerung auf als die der Männer.

Verändert hatte sich seit Beginn des Krieges jedoch die Erwerbsstruktur: Die Frauen wanderten von der Landwirtschaft oder aus dem häuslichen Dienst vermehrt in die Industrie ab. Auch innerhalb der Industrie verschob sich das Gewicht in Richtung kriegswichtiger Branchen. Diese Umschichtung weist die Historikerin Barbara Guttmann am Beispiel des Großherzogtums Baden (Textil- und Tabakindustrie) nach. Die metallverarbeitende Industrie Mannheims etwa verzeichnete bis 1916 einen Arbeiterinnenzuwachs von 1.263 Prozent, in der Metallarbeiterstadt Gaggenau von 547 Prozent.

Von einer „Emanzipation durch Männerarbeit“ jedoch, so Guttmann, könne schon wegen des aufgeweichten Arbeiterinnenschutzes, schlechter Arbeitsbedingungen und der Belastung durch die miserable Versorgungslage im Krieg nicht die Rede sein. Ähnlich lesen sich die Befunde der Historikerin Ute Daniel: Frauen an Männerarbeitsplätzen einzusetzen, sei aus der Not geboren worden und habe nach Kriegsende keineswegs zu einer größeren sozialen Akzeptanz von Frauenlohnarbeit geführt, sondern zu ihrer Verdrängung in „weibliche“ Arbeitsbereiche. Es habe sich um eine „Emanzipation auf Leihbasis“ gehandelt.

Dennoch hat der Krieg die Geschlechterverhältnisse durcheinandergewirbelt: Weniger Eheschließungen, Empfängnisverhütung und ein signifikanter Geburtenrückgang relativierten die Ehe als „Normalexistenz“ für Frauen. Den Aktivistinnen, die den Nationalen Frauendienst angeschoben und unterhalten hatten, gebührt das Verdienst, die Weichen für sozialpolitische und fürsorgerische Reformen der Weimarer Republik gestellt zu haben. Als Gegenleistung für ihre „weibliche Pflichterfüllung“ hofften sie auf das Wahlrecht, das freilich nicht von den Frauenorganisationen, sondern von Liberalen und Sozialdemokraten auf den Weg gebracht wurde. In der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1918 zog der Sozialist Kurt Eisner zum Landtag in München und forderte: „Öffnen Sie das Haus. Es ist Revolution, wir sind die Regierung.“ Die radikale Frauenrechtlerin Augspurg informierte ihre Freundin Heymann: „Eisner hat das Wahlrecht der Frauen für Bayern proklamiert. Deutschland muss folgen.“

Und Deutschland folgte. Doch war das Wahlrecht nur ein pflichtschuldiges Geschenk an die Frauen, ein Trostpflaster? Darüber gehen die Meinungen auseinander: Sabine Hering oder Irene Stoehr etwa deuten es als Folge und Erfolg der weiblichen „Unterwanderung“ auf Gemeindeebene, Guttmann und Daniel dagegen befinden, dass von einem „Machtverlust der Männergesellschaft“ (Guttmann) keine Rede sein könne. Die Einführung des Frauenwahlrechts habe an der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nichts geändert.

Was die Frauen nach dem Weltkrieg vorfanden, war ein Land, das von einer kurzen Revolutionseuphorie in die Depression stürzte. Sie kamen zu spät, um den lange zuvor von Männern geprägten Institutionen ihren Stempel aufzudrücken. Das ist die Hypothek, mit der Frauen noch heute zu kämpfen haben.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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