Zeitgeschichte Das Gesetz über die Spende von Organen tritt in Kraft und soll die Transplantationsmedizin aus der rechtlichen Grauzone holen. Doch sie gerät immer mehr ins Zwielicht
Jedes Jahr im Juni, am Tag der Organspende, beklagt die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), die hierzulande das Spende-Geschehen koordiniert, den kontinuierlichen Rückgang von Organspendern. Dabei handelt es sich nicht um vorübergehende Einbrüche, sondern um eine seit 20 Jahren anhaltende Entwicklung, gegen die keine mit bekannten Prominenten bestückte Werbekampagne, keine Transplantationsbeauftragten in den Kliniken und keine jugendlichen „Organpaten“ etwas auszurichten vermögen. Um es in dürre Zahlen zu fassen: Zwischen 2011 und 2016 ist die Zahl der Organspender von 900 auf 637 zurückgegangen. Um dies zu verstehen, muss man ein bisschen zurückblicken in die Geschichte der Organtransplantation und des zum 1. Dezember 1997 R
#8211; in der auslaufenden Regierungszeit des Kanzlers Helmut Kohl – in Kraft getretenen Gesetzes über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen.Im Frühjahr 1994 veröffentlichte anlässlich des 111. Chirurgenkongresses der Spiegel unter dem reißerischen Titel „Gedränge an der Leiche“ eine Gruselstory aus den Gedärmen der schneidenden Profession: Geschichten von Nierenklau, in deutschen Kliniken „systematisch und heimlich entnommenen Leichenteilen“ und Crashtests mit an die Wand gefahrenen Kinderleichen. Hintergrund war die in Deutschland bis dahin bestehende rechtliche Grauzone, in der sich die Transplantationsmediziner bewegten.Dabei war schon 1979 der damalige SPD-Justizminister Hans-Jochen Vogel mit seinem Vorstoß, ein Transplantationsgesetz in die Wege zu leiten, gescheitert, weil die von ihm favorisierte Widerspruchsregelung – wer der Organspende nicht ausdrücklich widerspricht, kann automatisch Organspender werden – nicht mehrheitsfähig war. Um nicht völlig im rechtsfreien Raum zu operieren und das damals noch neue konkurrierende Gewerbe nicht in Verruf zu bringen, arbeitete die Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren Deutschlands einen Kodex aus, der die Bedingungen für Organentnahme und -übertragung festlegte. Da nur wenige Deutsche einen Organspende-Ausweis besaßen, übertrugen die Chirurgen die Verantwortung auf die Angehörigen, die im Bedarfsfall entscheiden sollten.Mangelressource „Organ“Doch schon damals gab es Kritik an diesem die Betroffenen belastenden Usus, zumal das Aufkommen an Organen in dem Maße hinter dem Bedarf zurückblieb, wie sich die technischen Möglichkeiten erweiterten. Der Fall eines fünfjährigen Mädchens, dem in Pittsburgh in einer 15-stündigen Operation Leber, Magen, Darm, Bauchspeicheldrüse und Niere eingesetzt worden waren und das kurz darauf verstarb, erregte damals die Gemüter.Der steigende Bedarf an der Mangelressource „Organ“ war Anfang der 1990er Jahre der Ausgangspunkt für eine neuerliche Debatte, die ursprünglich von einer Selbsthilfeorganisation Betroffener angestoßen wurde. 1994 startete Hessen eine Bundesratsinitiative, die nach dem Vorbild Österreichs – wo die Leiche seit den Zeiten Maria Theresias dem Staat gehört – die Widerspruchsregelung gesetzlich verankern wollte. Doch nachdem Rheinland-Pfalz unter Ministerpräsident Rudolf Scharping (SPD) mit einem eigenen, wieder kassierten Landesgesetz vorgeprescht war, galt das Unternehmen als „verbrannt“: Der Staat, so die oppositionelle CDU, habe schließlich „keinen Anspruch auf den Körper eines Toten“.Das eigentliche „heiße Eisen“ war jedoch das der Transplantationsmedizin zugrunde liegende Todeskonzept. Schon Ende der 1960er Jahre stand die Transplantationsmedizin im Verdacht, die Medizinethik könnte in den Bringdienst der Chirurgie gestellt werden. Denn kaum war 1967 von Christiaan Barnard in Südafrika das erste Herz verpflanzt worden, fällte die berühmte Harvard-Ad-hoc-Kommission eine folgenreiche Entscheidung: Statt des bislang gültigen Herz-Kreislauf-Todes wurde nun der „Brain Death“, der irreversible Ausfall der Hirnfunktionen, als Todesdefinition in den medizinethischen Kreislauf eingespeist. Um frische Organe zu „ernten“, musste der Organismus aufrechterhalten werden. Denn der Weg, den man später im besagten Pittsburgh ging, war zumindest in Deutschland nicht denkbar: Dort erklärte man Patienten, deren Herz zwei Minuten lang nicht selbstständig schlug, für tot. Wie aber kann es sein, so fragten sich damals viele, dass eine für hirntot erklärte Frau noch ein Kind „austragen“ kann? Der 1992 bekannt gewordene Fall der 19-jährigen Marion Ploch, die in der 15. Schwangerschaftswoche mit ihrem Pkw verunglückt war und so lange hirntot im Erlanger Klinikum liegen sollte, bis das Kind „geholt“ war, trieb die Republik um. Das sogenannte Erlanger Baby kam gut drei Wochen nach dem Unfall spontan – und tot – zur Welt, hinterließ aber eine bis heute unbeantwortete Frage.1994/95 sah sich die Politik schließlich unter Zugzwang, doch noch ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Es war, nach dem Embryonenschutzgesetz von 1990, das nächste einer langen Reihe bioethischer Gesetzesvorhaben mit fraktionsübergreifenden Anträgen. Die damals in solchen Fragen noch relativ geschlossene grüne Fraktion war Schriftführerin eines Entwurfs zur engen Zustimmungsregelung, nach der die Bereitschaft zur Organspende selbst erklärt werden muss. Unterstützt wurde das von SPD-Abgeordneten wie Herta Däubler-Gmelin und Wolfgang Wodarg, aber auch vom amtierenden FDP-Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig. Die von Gesundheitsminister Horst Seehofer verantwortete erweiterte Zustimmungsregelung übernahm dagegen die gängige Praxis: Liegt kein Organspende-Ausweis vor, müssen die Angehörigen nach dem „mutmaßlichen Willen“ des hirntoten Patienten entscheiden.Die aufgeheizte Debatte über Hirntod und Organentnahme war begleitet von den Drohungen der Transplantationsmediziner: Falls sich die Hirntod-Kritiker durchsetzten, so etwa der einflussreiche Rudolf Pichlmayr bei einer Anhörung 1995, würden er und seine Kollegen keine Organe mehr entnehmen. Ähnlich äußerte sich auch Ärzte-Chef Karsten Vilmar. Doch gab es auch Kollegen, die sich diesem erstmals in Gesetzesform gegossenen Todeskriterium widersetzten und in einer öffentlichen Erklärung zu bedenken gaben: „Wer zur Organspende bereit ist, nimmt zur Lebensrettung eines anderen eine Verlängerung seines Sterbens in Kauf.“„Wir haben mit dem Transplantationsgesetz eine moralisch-ethische Gratwanderung zu vollziehen“, erklärte der SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler in der fünfstündigen Bundestagsdebatte am 25. Juni 1997, in der viel von Selbstbestimmung, aber auch von Verunsicherung und Misstrauen der Bevölkerung die Rede war. „Hirntote sind Sterbende“, vertrat die Grüne Monika Knoche die Position der Hirntod-Kritiker; der FDP-Mann Jürgen Möllemann setzte dagegen: „Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Bevölkerung tut, was getan werden muss.“ So wurde die erweiterte Zustimmungsregelung mit 449 von 629 Stimmen verabschiedet. Sie garantierte den Fortbestand der bis dahin praktizierten Praxis unter der Ägide von Eurotransplant und DSO.Nicht die erfolglosen Verfassungsbeschwerden in der Folgezeit, sondern die Skandale in der Transplantationsmedizin selbst, die Manipulation von Wartelisten und Dringlichkeiten, haben schließlich dazu geführt, dass die Deutschen der Organspende heute skeptischer denn je gegenüberstehen. Die Transplantationsmedizin ist ein Milliardengeschäft, das anfällig ist für Korruption. Und die Verteilungsregeln waren seit Inkrafttreten des Gesetzes umstritten, weil sich die Kriterien Dringlichkeit und Erfolgsaussicht eigentlich ausschließen.Zweifel nähren andererseits auch neue bildgebende Verfahren, die Einblicke in die Empfindungen hirntoter Patienten geben. Und die Kritik am Lebensverständnis des Hirntod-Konzepts ist bis heute nicht verstummt. Ein Bundesminister, der seiner Frau eine Niere spendet, mag honorig sein, er widerlegt aber nicht die Bedenken gegenüber dem Gesamtsystem.
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