70 Jahre Erfahrung ignoriert

Armut und Gesundheit Der Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock lässt kein gutes Haar an den Boni-Vorschlägen von Gesundheitsminister Rösler. Prävention sieht für ihn anders aus

Freiheit“ und „Eigenverantwortung“ sind die Grundvokabeln, die der neue Gesundheitsminister Philipp Rösler vor sich herträgt. Er will den „mündigen Patienten“ in die Pflicht für seine Gesundheit nehmen, ihn „aufklären“ und befähigen, dafür zu sorgen, „dass er erst gar nicht krank“ wird. So spricht ein Angehöriger der Mittelschicht, der qua Lebensumstände, Einkommen und Bildung in vergleichsweise guter Verfassung ist und über Mittel verfügt, diesen Zustand zu erhalten.

Den 20 Prozent der Kinder aus sozial benachteiligten Schichten, die nach einem dramatischen Familienwochenende ohne Frühstück aufgewühlt in die Schule kommen, deren Eltern weder das Geld noch die Kenntnisse haben, um sie gesund zu ernähren, die auch nicht jeden Nachmittag zum Sportverein gefahren werden, nützt der Appell an die „Mündigkeit“ und „Aufklärung“ allerdings wenig. Sie werden nicht von den Prämien profitieren, die Rösler für die individuelle Vorsorge in Aussicht stellt und auch nicht von den Maßnahmen aus dem medizinischen Hightech-Bereich, den der Koalitionsvertrag ankündigt.

Was sie brauchen, sind frühe Hilfen im Bereich ihrer Lebensumwelt, so Elisabeth Pott von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Auftakt des Kongresses „Armut und Gesundheit“ in Berlin. Dort tauschten sich wie jedes Jahr Experten und Mitarbeiter aus dem nicht-medizinischen Gesundheitssektor darüber aus, wie das in der WHO-Charta festgeschriebene Menschenrecht auf Gesundheit – das heißt gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung und gleiche Gesundheitschancen für alle – im Kiez, in der Schule oder in den Familien umgesetzt werden kann.

Prämien erreichen nicht jeden

In Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel sind „Familienhebammen“ unterwegs, um Menschen in schwierigen Lebenslagen auch nach der Geburt eines Kindes zu unterstützen. Im Nachbarschaftsheim St. Pauli, das für sein Engagement zusammen mit zwei weiteren Projekten ausgezeichnet wurde, finden ältere Menschen mit Migrationshintergrund Ansprache und Rat. In Augsburg kümmern sich Sozialpaten um überschuldete und hilfsbedürftige Erwerbslose. Gemeinsam ist all diesen „Beispielen guter Praxis“, dass sie eine genaue Zielgruppe definieren, gut erreichbar sind und die Betroffenen befähigen, ihre Lebensumwelt aktiv selbst mit zu gestalten. Gemeinsam ist ihnen aber auch die meist kurzfristige Finanzierung, die umso prekärer wird, je stärker die Gesundheitspolitik auf die Verhaltens- statt die Verhältnisprävention fokussiert.

Dabei lehren auch internationale Erfahrungen, dass etwa Prämienanreize nur diejenigen erreichen, die ohnehin schon auf der gesundheitlichen Gewinnerseite stehen. Viele amerikanische Boni-Programme, berichtete der in Harvard lehrende Harald Schmidt, seien auf die Mittelschicht ausgelegt und schlössen von vornherein bestimmte Gruppen aus. In dem Maße, wie die gesundheitliche Verantwortung, so seine deutsche Kollegin Bettina Schmidt, auf das Individuum verlegt wird, fallen die ursächlichen Bedingungen aus dem Blick, die die Menschen krank machen. Der Präventionsansatz des Gesundheitsministers, urteilt der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock außergewöhnlich harsch, sei „intellektuell schlicht nicht satisfaktionsfähig“, weil er eine 70-jährige Public-Health-Erfahrung ignoriere, die gezeigt habe, dass das Aufklärungskonzept nicht greift. Nachdem das Präventionsgesetz ohnehin im Orkus verschwunden ist, und der Streit um den Gehalt der Sozialversicherungen alles andere in den Hintergrund drängen wird, sieht Rosenbrock schwierige Zeiten für eine nachhaltige Gesundheitsförderung anbrechen. „Es wird sich zeigen, ob von der auf diesem Kongress versammelten Szene Impulse ausgehen, die der Öffentlichkeit klar machen, dass es falsch ist, allein auf Technik, Eigenverantwortung, Aufklärung und finanzielle Anreize oder Strafen zu setzen.“

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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