Die Angst. Diese Angst, wenn man durch das dunkle Wäldchen musste, um in die Kirche zu kommen oder in die Pfarrbibliothek. Im November wurde es früh dunkel, und jedes Käuzchen, jedes Ächzen eines Baumes ließen das Kind, das ich war, zusammenzucken. Zwischen Freiburg-West und dem gerade neu erschlossenen Stadtteil Landwasser lag der Mooswald, und die Infrastruktur war, als die ersten Mieter einzogen, jämmerlich: Ein Lebensmittelladen in einer Baracke, eine Grundschule, irgendwann eine Buslinie.
Landwasser, 1964 im Stadtrat beschlossen, und ab Sommer 1966 bezogen, war ein Vorzeigeprojekt des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Eugen Keidel. Das Wohnungsproblem in Freiburg brannte, die jungen Familien der künftigen Babyboomer hatten kaum Chancen, in der damals beschaulichen, in ihren städtebaulichen Dimensionen aber ans 19. Jahrhundert erinnernden Stadt unterzukommen. Im Unterschied zu dem gleichzeitig hochgezogenen Problembezirk Weingarten sollte ein sozial durchmischter Stadtteil entstehen, Hochhäuser mit eingestreuten Bungalows und Einfamilien-Waben. Unter anderen baute auch die Neue Heimat in großem Stil, wir zogen im Herbst 1966 in den zweiten sechsgeschossigen Riegel.
Meine Mutter hatte sich die Finger ihrer kriegsversehrten Hand wund geschrieben. Immer wieder sandte sie Brandbriefe an den OB, um die Dramatik ihrer Situation zu beschreiben. Unser Nistplatz unterm Dach im gutbürgerlichen Viertel wirkte von außen vielleicht romantisch, war für eine vierköpfige Familie mit Kleinkind aber unzumutbar: Gemeinschaftstoilette, zum Heizen der Gasherd, im Sommer schleppte man Stangeneis aus der Brauerei in den vierten Stock, um Butter und Milch zu kühlen. Viele Familien lebten damals so.
Landwasser war wie ein Aufstieg vom Fegefeuer in den Himmel, auch wenn wir Parterre wohnten. Fließendwarmes Wasser, Zentralheizung, ein schönes Bad. Ich erinnere mich noch wie heute an das erste Aufwachen: Das Morgenlicht strömte durchs Fenster, nebenan plätscherte ausgiebig die Dusche. Ein ungewöhnliches Geräusch für ein Kind, das es gewohnt war, in einer Plastikbadewanne gewaschen zu werden.
Die Nachteile erlebten wir erst etwas später. Die „Platte“ ruhte auf einem ausgedehnten, noch nicht trockengelegten Feuchtgebiet. Die den Sommer über zirpenden Grillen und quakenden Frösche waren harmlos im Vergleich zu den Schaben, die nachts herumwuselten und erst nach jahrelangem Kampf verschwanden. Und ich lernte früh, dass soziale Distinktion auch über die Wohnanschrift läuft. Selbst, wenn wir komfortabler wohnten als die meisten Familien mit „guten“ Adressen, haftete unserer ein gewisser Makel an: Ach, aus Landwasser …
Mit den Jahren verbesserte sich die Infrastruktur, der Stadtteil wuchs weit über die geplanten Grenzen hinaus. Mit dem zunehmenden Autoverkehr in der Stadt waren die Kindheiten in den weitgehend verkehrsfreien Zonen dort sogar freier und risikoärmer – und Kinder gab es zuhauf. Dennoch tauschte ich, noch als Schülerin, den „Luxus“ gegen die vergleichsweise primitiv ausgestattete Wohngemeinschaft, die mich die Freuden der Ofenheizung lehrte und eines ewig defekten Durchlauferhitzers.
Heute macht Landwasser Negativschlagzeilen mit dem größten AfD-Wähleranteil Freiburgs, bei den Landtagswahlen 2016 waren es über 22 Prozent. Über die Gründe wird spekuliert. Als ich vor ein paar Jahren erstmals nach Jahrzehnten wieder dort war, kam mir alles so fremd vor – und „unser“ alter Riegel, eingekeilt zwischen Hochhäusern, die den Namen verdienen, so klein.
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