In der Geburtsurkunde der Europäischen Union schrieb Robert Schuman 1950, Europa lasse sich nur durch die „Solidarität der Tat“ herstellen. Der ehemalige französische Außenminister und europäische Gründervater sprach von einer „mächtigen Produktionsgemeinschaft“ und meinte zunächst die Grundindustrie, die alle kriegstreibende Konkurrenz beenden und das „Ferment für eine tiefere Gemeinschaft“ schaffen werde.
Fast 65 Jahre später hat sich der euro-päische Wirtschaftsraum auf eine für Schuman wohl kaum vorstellbare Weise aus-gedehnt. Doch mit der von ihm beschworenen Solidarität der Tat sind die Konkurrenzen zwischen den Nationalstaaten keineswegs verschwunden. In der auf die Idee unbegrenzten
egrenzten Güter- und Personenverkehrs zusammengeschrumpfte Europäische Union wird zwar um Absatzmärkte und Humankapital gebuhlt, doch die steigende Umschlagsgeschwindigkeit insbesondere von Menschen fordert auch protektionistische Kräfte der Beharrung heraus. Zumal dort, wo es an mentalem Kitt gegen die Erosionsschäden in der Gemeinschaft fehlt.Pünktlich mit der unbegrenzten Freizügigkeit der EU-Beitrittsländer Rumänien und Bulgarien erlebt Deutschland eine neue Zuwanderungsdebatte, die dieses Mal unter dem Begriff Armutswanderung firmiert. Trieb vor ein paar Jahren der sprichwörtliche polnische Klempner angeblich das deutsche Handwerk in den Ruin, sind es nun rumänische und bulgarische Einwanderer, die nach Auffassung der CSU das Sozialsystem unterminieren. Dass gegenläufige Daten offenbar wenig bewirken, gehört zur Natur aufklärungsresistenter Ressentiments. Man könnte die Angelegenheit als bayrische Fingerhakelei mit den Partnern in der Großen Koalition abtun, würde es sich nur um ein isoliertes deutsches Phänomen handeln. Doch es dräut fast überall in den europäischen Wohlstandszonen, besonders heftig in Großbritannien, aber auch in Schweden, den Niederlanden oder Frankreich. Einzig die von Abwanderung gebeutelten Länder Italien und Spanien begrüßten die südosteuropäischen Ankömmlinge schnell und vorbehaltlos. Die Europawahlen werden der Lackmustest für den Rechtspopulismus werden. Sein Süppchen kocht er auf der widersprüchlichen oder gar verfehlten europäischen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, auf die in den einzelnen Ländern nun restriktiv reagiert wird.In Großbritannien versucht sich Premierminister David Cameron aus dem Würgegriff der europa-feindlichen United Kingdom Independence Party zu befreien, die bei den letzten Kommunalwahlen ein Viertel der Stimmen abgeräumt hat. 13 Prozent der Bewohner der Insel sind mittlerweile im Ausland geboren, in der Metropole London die weißen Briten eine Minderheit. Cameron verspricht nun, die Nettoeinwanderung um über die Hälfte auf unter 100.000 im Jahr zu drücken. Zunächst wurde der Nachzug von Ehegatten an ein jährliches Durchschnittseinkommen von mehr als 22.000 Euro geknüpft, dann verfügte der Regierungschef, EU-Einwanderer erst nach drei Monaten Sozialgeld auszuzahlen – eine Regelung, die in Deutschland schon lange gilt. In den Niederlanden treibt der Rechtspopulist Geert Wilders die Regierungskoalition vor sich her. Durchaus von einer Mehrheit der Holländer gestützt, die der Auffassung sind, es lebten schon genug Ausländer im Land.Der Rechtspopulismus gedeiht auf fruchtbarem Boden, denn die „in die Tat“ umgesetzte europäische Idee basiert, bei aller ökonomisch erwünschten Zuwanderung, auf mentaler Abschottung. Gerade hat die EU ein Abkommen mit der Türkei unterzeichnet, das die Rücknahme von Flüchtlingen regelt, die über die Türkei in die EU gelangen. Gleichzeitig insistiert EU-Kommissarin Viviane Reding darauf, dass es keinen Anspruch auf „Einwanderung in die Sozialsysteme“ gebe und jeder Ausländer ohne Jobaussicht ausgewiesen werden könne. Statt die hochmotivierten Einwanderer als Ansporn zu begreifen, werden Vorurteile gehätschelt und die Verantwortung zwischen Nationalstaaten und Brüssel hin- und hergeschoben.Das fehlende „Ferment einer tieferen Gemeinschaft“, wie Schuman es einst nannte, lässt sich auch daran ablesen, dass der Blickwinkel auf das eigene Land verengt bleibt. Man stelle sich das Geschrei vor, wenn sich in Deutschland wie in Rumänien innerhalb von zehn Jahren 12 Prozent der vornehmlich gut qualifizierten Arbeitskräfte entschlössen, auszuwandern, ohne ausgleichenden Zuzug. Das Abendland wäre längst schon untergegangen.Überhaupt keine Idee hat Europa für den so genannten Rest, die arme Landbevölkerung. Insbesondere die ohnehin diskriminierten Sinti und Roma will keiner haben. Sie laufen dort auf, wo es billige Unterkünfte gibt, etwa im Ruhrgebiet, dem ansonsten die Menschen abhanden kommen. Aber auch der Anti-Ziganismus ist ein gesamteuropäisches Phänomen, das wandernde Volk ein Stachel im Fleisch der nur zwangsweise mobilisierten Sesshaften. Was die unter Freiheit verstehen, sieht man in Großbritannien. Dort wird Freiheit mittlerweile mit der Befreiung von Europa gleichgesetzt und Grenzen jeder Art bedeuten Sicherheit.