„Die Beschäftigten können einfach nicht mehr, es reicht!“, sagt Anästhesiepflegekraft Sandra Heim*. Sie erzählt von ihren Erlebnissen auf einer Überwachungsstation in einem Berliner Krankenhaus: Neben anderen Patienten zwei Notfälle nachts, ein Patient mit Hirnblutung, beim anderen gab es Komplikationen nach einer Operation. Die Pflegenden spurten hin und her. Das war noch vor der Pandemie. Heim weiß nicht, ob der zweite Patient überlebt hätte, wenn die Station nicht unterbesetzt gewesen wäre, aber sie macht sich ihre Gedanken.
Benny Dankert, der auf einer Corona-Station im Augusta-Viktoria-Klinikum (AVK) in Berlin arbeitet, berichtet von dramatischen Schichten, 19 Patienten, zwei Pflegepersonen, ständig der Klingel hinterhe
l hinterherlaufen. Anästhesiepflegerin Silvia Habekost, die ihre Arbeit mit der einer Co-Pilotin vergleicht, ist am Klinikum in Berlin-Friedrichshain, das wie das AVK zum landeseigenen Vivantes-Konzern gehört, oft Teil unvollständiger OP-Schichten: „Es wird operiert, unabhängig von der Personalbesetzung.“ Denn nur Operationen brächten Geld. Felix Bahls, der im „Labor Berlin“ beschäftigt ist, einer Tochter der beiden großen Klinikgesellschaften („Cha/Vantes“), klagt über eklatant ungleiche Löhne für gleiche Arbeit. Am Kreuzberger Urban-Krankenhaus muss Reinigungskraft Suheyla Uzuna jeden Tag mindestens eine halbe Stunde früher antanzen, um ihr Material auf die Station zu bringen. Unbezahlt.Fünf Jahre nach dem erfolgreichen Streik an der Charité brodelt es wieder einmal unter den Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser. Ständige Überlastung und teilweise noch immer schlechte Bezahlung sind auch nach dem „Tarifvertrag Gesundheit“ 2015 an der Tagesordnung, obwohl der Arbeitskampf in andere Bundesländer ausgestrahlt hat. Tarifflucht durch Ausgründungen, Unterlaufen der Personaluntergrenzen und die Weigerung der kommunalen Arbeitgeber zu verhandeln haben die 15.000 betroffenen Beschäftigten nun in Bewegung gebracht. Sie fordern mit Unterstützung von Verdi und zugunsten aller Berliner:innen Lösungen für den Personalnotstand. „Es gibt nämlich gar keinen Fachkräftemangel“, sagt Silvia Habekost, „sondern eine Flucht aus dem Beruf. Für uns ist das hier auch die Chance, im Beruf zu bleiben.“Streit um einen TarifvertragEin Drittel aller Beschäftigten auf den Intensivstationen denkt derzeit darüber nach, den Beruf zu wechseln, obwohl vor allem durch Anwerbungen aus dem Ausland zumindest die Zahl der Pflegekräfte in den Kliniken während der Pandemie um 18.500 stieg. Die Ausstiegstendenz wird sich nach der Pandemie verstärken, wenn die in der Pflege Tätigen nicht mehr das Gefühl haben, Corona-Patienten im Stich zu lassen. Nach einer Verdi-Umfrage können sich aber fast 50 Prozent aller ausgestiegenen Pflegekräfte vorstellen, wieder in den Beruf zurückzukehren, wenn sich Arbeitsbedingungen und Bezahlung verbessern, ein Potenzial von 120.000 bis 200.000 Arbeitskräften.Den Handlungsdruck bekommt die Politik nicht nur aus der gewerkschaftlich besser organisierten Krankenpflege, sondern auch aus der Altenpflege zu spüren. Nachdem die Caritas den allgemeinverbindlichen Tarifvertrag hat platzen lassen (der Freitag 9/2021), bleibt das Thema virulent. Nach dem Vorpreschen von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit dem Pflege-Tariftreue-Gesetz Mitte März liegt die Staffel nun wieder in der Hand des über Heils Vorstoß wenig erfreuten Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU). Im Kern geht es darum, die Pflegeheimbetreiber zu tariflicher Entlohnung zu zwingen und gleichzeitig zu verhindern, dass der von den Bewohner:innen zu entrichtende Eigenanteil durch die Decke geht.Deshalb sollen nach dem Entwurf Spahns von Juli 2022 an nur diejenigen Pflegeeinrichtungen zugelassen werden, die einen Tarifvertrag abgeschlossen haben beziehungsweise nach Haustarif bezahlen. Umgekehrt sollen Heimbewohner:innen in Pflegestufe 2 bis 5 stufenweise entlastet werden. Ihr Eigenanteil von derzeit durchschnittlich 2.069 Euro würde durch eine staatliche Zuzahlung nach zwölf Monaten Aufenthalt um 25 Prozent, nach zwei Jahren um 50 und nach 36 Monaten um 75 Prozent sinken, zu Lasten des Bundes, der auch den Arbeitgeberanteil zur Rente für die Pflegekräfte übernähme. Das Paket soll an das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung angegliedert und vor der Bundestagswahl verabschiedet werden.Einmal davon abgesehen, dass fast die Hälfte aller Betroffenen ohnehin weniger als zwölf Monate im Heim verbringt und in dieser Zeit also 75 Prozent des Eigenanteils stemmen müsste, weiß Spahn offenbar auch nichts mehr von seiner Vorjahres-Ankündigung, den Eigenanteil auf maximal 700 Euro vom ersten Tag an zu deckeln. Mit prozentualen Zuschlägen bürdet er den Pflegebedürftigen nun einen Teil des Kostenanstiegs auf. Verdi sorgt sich außerdem um die Tarifabschlüsse. Arbeitgeber könnten mit (bereits existierenden) Pseudogewerkschaften irgendwelche Vereinbarungen treffen, deren Einhaltung nach Spahns Entwurf gar nicht überprüft würde. Und wo kommen wir eigentlich hin, wenn es Schule macht, dass der Bund und damit wir alle einfach so die Arbeitgeberbeiträge für die Rente übernähmen?Dass es eine Pandemie braucht, um die Zustände in der Pflege zu skandalisieren, ist schlimm. Aber welcher, wenn nicht dieser Wahlkampf im Jahr 2021 wäre besser geeignet, um die öffentliche Gesundheits- und Daseinsvorsorge zum Thema zu machen? Zumindest in Berlin laufen sich die Beschäftigten warm.